»Der Nebel zieht bereits über den Hochweg. Wir müssen uns beeilen, wenn wir noch rechtzeitig von hier verschwinden wollen.«
»Wo ist der Junge?«
Er schüttelte finster den Kopf. »Vergiß den Jungen. Wir müssen dein Leben retten.«
Sie sah ihn entgeistert an. »Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«
»Der Junge ist nicht mehr wichtig. Es ist zu spät.«
Kriemhild stand fassungslos da und bebte vor Wut. »Du hast dieses Kind nur mitgenommen, um es an meiner Stelle zu opfern! So ist es doch, nicht wahr? Du wolltest mich befreien, warst aber nicht sicher, ob Berenike mit ihrer Prophezeiung nicht doch recht hatte. Dein Plan war, statt meiner den kleinen Jorin zu töten!«
Hagens Blick verriet keine Spur von Scham oder Reue. »Wenn du weiter so herumschreist, werden sie uns entdecken.«
»Das macht wohl kaum noch einen Unterschied!«
»Wir müssen zum Tor«, sagte er eindringlich. »Noch können wir die Burg über den Hochweg verlassen. Wenn er erst völlig im Nebel untergegangen ist, dann -«
»Nicht ohne Jorin!« sagte sie fest. »Und nicht ohne Jodokus!«
»Du willst den Sänger mitnehmen? Du hast ja den Verstand verloren!« Hagen hielt immer noch den bewußtlosen Etzel im Arm; Kriemhild kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß er sie sonst auch gegen ihren Willen von hier fortgeschleppt hätte.
»Wir gehen zurück und holen sie«, beharrte sie und fügte ein wenig unsicherer hinzu: »Irgendwie.«
»Irgendwie!« Hagen verzog das Gesicht. »Es ist völlig unmöglich. Jeden Moment werden sie anfangen, nach dir und diesem Prinzen zu suchen. Bis dahin müssen wir von hier fort sein.«
Kriemhild schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie war sich bewußt, daß sie vielleicht gerade den größten Fehler ihres Lebens beging. Und den letzten. Sie konnte nicht anders.
Ohne Hagen weitere Beachtung zu schenken, drehte sie sich um und trat wieder an die Hausecke. Vorsichtig blickte sie um die Kante zurück zum Hof. Der Priester wies gerade zwei Krieger an, eine von den Kisten herbeizuholen, die oben auf den Zinnen standen.
Hagen stand plötzlich hinter ihr. Er hatte Etzel am Boden abgelegt.
»Verflucht!« entfuhr es ihm, als er sah, daß die beiden Krieger sich den Kisten auf dem Wehrgang näherten.
»Was ist?« fragte Kriemhild.
»Der Junge! Er versteckt sich hinter den Kisten.«
Kriemhild blickte alarmiert hinauf zu den Zinnen. Die beiden Krieger beugten sich vor und hoben gemeinsam eine der Kisten vom Boden. Dahinter war nichts als leere Mauer. Kriemhild atmete auf. Eilig trugen die Männer ihre Last die Stufen hinunter und luden sie vor der Feuerstelle auf dem Pflaster ab. Der Priester verscheuchte sie mit einer Handbewegung und stieg auf den Kistendeckel. Zufrieden mit seiner erhöhten Position blickte er ernst auf die Männer herab, die sich im Halbkreis um ihn versammelten.
Auch der einzelne Krieger, der mit Jodokus auf den Zinnen zurückgeblieben war, trat an die innere Kante des Wehrganges und blickte hinab in den Hof. Sein Befehl, den Nebel zu beobachten, war vergessen; wie alle anderen suchte er Trost in den Worten des Priesters.
Der Mann stand mit dem Rücken zu den verbliebenen Kisten. Abermals fürchtete Kriemhild, Jorin könnte entdeckt werden, und ihr Blick huschte aufgeregt zwischen den Kisten und Jodokus hin und her. Doch der Sänger blickte immer noch über die Zinnen hinweg in den Nebel; er schien beinahe darauf zu warten, daß die Prophezeiungen sich endlich bewahrheiteten.
Hinter den Kisten bewegte sich etwas.
»Um Gottes willen«, flüsterte Kriemhild beschwörend, »bleib unten!«
Aber Jorin erhob sich noch im selben Augenblick, stieg unbemerkt über ein Faß hinweg, holte mit beiden Armen aus - und rammte dem Krieger an der Kante die Fäuste ins Kreuz. Völlig überrumpelt stieß der Mann ein erstauntes Keuchen aus, seine Hände wirbelten haltsuchend durch die Luft, dann kippte er vornüber. Kreischend stürzte er in die Tiefe, schlug hart wie ein Stein auf dem Pflaster auf. Reglos blieb er liegen.
Ein Aufschrei der Empörung ging durch die Versammlung der Krieger. Sie alle entdeckten zugleich den kleinen Jungen, der an der Kante stand und unentschlossen auf den Körper unten im Hof blickte. Jorin schien nicht glauben zu können, was er gerade getan hatte.
Auch Jodokus drehte sich um, langsam, wie in Trance. Als er erfaßte, was geschehen war, und sah, daß ein halbes Dutzend Hunnen mit blankgezogenen Schwertern die Treppe heraufstürmte, beschleunigten sich seine Bewegungen. Blitzschnell schob er Jorin mit dem Rücken an die Zinnen und eilte mit zwei weiten Sätzen zu den Kisten. Eine hob er mit beiden Händen empor und schleuderte sie den Kriegern auf der Treppe entgegen. Das hölzerne Geschoß krachte mitten unter sie und brachte die vorderen zu Fall. Brüllend stürzten sie nach hinten, rissen die übrigen mit sich und taumelten haltlos über den Rand der geländerlosen Treppe ins Leere. Fünf der sechs Männer verloren das Gleichgewicht und fielen hinab in den Hof, nur einer prallte der Länge nach auf die Stufen und brach sich an einer Kante den Unterkiefer. Die anderen waren offenbar mit Prellungen und Schmerzen davongekommen, denn die ersten richteten sich bereits wieder auf und setzten mit haßerfüllten Mienen zur Verfolgung des Sängers und des kleinen Jungen an.
Als sie aber hinauf zum Wehrgang schauten, waren die beiden spurlos verschwunden.
Der Priester brüllte Befehle, und ein weiterer Teil der Krieger löste sich aus der Versammlung und lief am Fuß der Mauer entlang nach Osten.
Auch Kriemhild hatte gesehen, wie Jodokus und Jorin den Wehrgang entlang in östliche Richtung gelaufen waren. Augenscheinlich wollten sie die Burg umrunden und an anderer Stelle nach unten steigen, in der Hoffnung, ihren Verfolgern zuvorzukommen.
Hagen riß Kriemhild am Oberarm herum. »Wenn sie klug sind, laufen sie zum Tor. Sie könnten es schaffen, und wir ebenfalls. Komm schon!« Mit diesen Worten warf er sich den reglosen Etzel über die Schulter, als wöge er trotz seines Rüstzeugs nicht mehr als ein junges Rehkitz.
Kriemhild gab schweren Herzens nach und folgte dem Krieger über die Gasse. Als sie im Laufen einen letzten Blick zurück zum Hof warf, sah sie, daß der Priester sie entdeckt hatte. Befehle und Stiefelschritte hallten zwischen den Mauern wider, als sich ein ganzer Trupp von Hunnen in Bewegung setzte und die Verfolgung aufnahm.
»Komm! Schneller!« schrie Hagen ihr über die Schulter zu.
Sie überholte ihn einen Augenblick später. Hagen atmete schwer unter der Last des Prinzen, seine Geschwindigkeit war dennoch erheblich; ob sie aber ausreichen würde, um eine Horde wildgewordener Hunnen abzuschütteln, schien unwahrscheinlich. Schon waren die ersten auf fünfzehn Schritte heran, und ihre Schreie und das Scharren ihrer Sohlen erfüllten den Einschnitt zwischen den Häusern mit ohrenbetäubendem Lärm.
Nach der nächsten Ecke war das Tor vor ihnen zu sehen. Zwischen ihnen und dem Spitzbogenportal lag ein weiterer Hof. Gerade stolperten Jodokus und Jorin eine Treppe hinunter, während aus einer anderen Richtung Gebrüll ertönte. Sowohl auf dem Wehrgang als auch am Fuß der Mauer waren ihnen die Hunnenkrieger dicht auf den Fersen.
Doch es war nicht der Anblick der bedrängten Freunde, der Kriemhild eiskaltes Grauen einflößte.
Jenseits des Tores hatte sich die Welt in weißes Nichts aufgelöst. Der Nebel hatte den Hochweg verschlungen. Durch den offenen Torbogen quollen wabernde Schwaden.
»Weiter!« rief Hagen unermüdlich. Etzels Körper regte sich noch immer nicht, und das mochte einer der Gründe sein, weshalb keine Bogenschützen auf sie anlegten; Hagen lief genau hinter Kriemhild, und der Prinz auf seiner Schulter war ein hervorragender Schutz vor Pfeilen.
Sie trafen Jorin und Jodokus am Tor, während sich hinter ihnen die Verfolger zu einer tödlichen Meute vereinigten. Jorin war totenblaß, seine Augen weit aufgerissen. Jodokus zog ihn keuchend am Arm hinter sich her. Der Kleine rannte mit all seiner Kraft. Kriemhild ergriff Jorins andere Hand, und gemeinsam gelang es ihnen, den Jungen durch den Torbogen zu ziehen.