Tränen verschleierten Kriemhilds Sicht, und sie mußte sich mit dem Ärmel über die Augen reiben, um den Freund ein letztes Mal zu sehen. Viel Zeit blieb ihr nicht, denn der Nebel stieg höher, hier am Hang und rund um die Türme. Schon krochen die Dunstränder an dunklem Schiefer empor, schon verschwanden die Füße und Beine der beiden einsamen Gestalten in wallenden Schwaden.
»Jodokus!« schrie Kriemhild über das Tal hinweg, und vielleicht hörte er sie ja, denn er drehte den Kopf und blickte herüber, und ganz kurz schien es ihr, als hätte sie trotz der Entfernung ein Lächeln auf seinen Zügen gesehen. Ein schwaches, trauriges Lächeln.
Dann schloß sich der Nebel über ihm und der Hexe, und einen Augenblick später waren auch die Fahnen und der Wetterhahn unter der Oberfläche verschwunden.
Hagen stand plötzlich neben Kriemhild und nahm sie in den Arm wie ein Vater die Tochter, sehr vorsichtig, sehr zaghaft. Doch statt Liebe war da Treue, und statt Trost empfand sie nichts als Trauer.
Epilog
Die vier Haupttürme des Wormser Münsters ragten fast zwanzig Mannslängen hinauf in den Himmel, und Kriemhild schien es manchmal, als müßten ihre Spitzen gar die Wolken durchbrechen. Sie stand an einem Fenster im obersten Stockwerk, gleich unterm Dach eines der beiden Osttürme, und blickte hinab in den Hof der Königsburg. Alles dort unten schien ihr sehr fern, sehr unbedeutend.
Der mächtige Dom erhob sich im Zentrum der Burg, und seine höchsten Fenster überschauten nicht nur die riesige Festungsanlage mit ihren Wehrmauern, Fachwerkbauten und rotbraunen Giebeln, sondern auch die ganze Stadt, den Rhein und die weiten Wälder im Osten.
Kriemhild kniff die Augen zusammen und schaute über die Wipfel der Bäume hinweg, dorthin, wo das Land in diesigem Blau mit dem Sommerhimmel verschmolz. Irgendwo dort hinten, weit, weit entfernt, lag Salomes Zopf. Sie fragte sich, wie es jetzt, nach Jodokus’ Opfergang, wohl dort aussehen mochte, in jenem fernen Tal unter den Türmen des Hexenhortes.
Schon früher war sie oft hier heraufgestiegen um alleinzusein, doch seit ihrer Rückkehr vor sieben Tagen tat sie es regelmäßig. Morgens, zur Mittagszeit und noch einmal vor Anbruch der Dämmerung. Sie hielt Ausschau nach zwei weißen Adlern.
Unten am Haupttor gerieten einige Stallburschen in Bewegung. Ein Ruf drang von außen in den Hof, ein zackiges Kommando der Burgwache. Jemand kam, ein Reiter.
Nachdenklich beobachtete Kriemhild von ihrem Fenster unter den Wolken, wie Hagen von Tronje auf einem braunen Wallach durch den Torbogen ritt. Instinktiv glitt ihr Blick hinauf zu den Zinnen. Auf einer saßen zwei schwarze Raben und blickten reglos hinab in den Hof.
Hagens langer Umhang flatterte, als er sich vom Pferd schwang und das Tier in die Obhut der Stallknechte gab. Ein halbes Dutzend Knappen eilte herbei, vorneweg ein kleiner Junge, der neu war im Dienste des Königs. Kriemhild erwartete, daß Jorin zu ihr emporblicken würde, doch er tat es nicht. Statt dessen war er der erste an Hagens Seite und nahm würdevoll den Schwertgurt des Kriegers entgegen. Hagen blickte kurz zu ihm hinunter, doch Kriemhild konnte nicht erkennen, ob er Jorin ein Lächeln schenkte. Es war unwahrscheinlich. Hagen lächelte nie.
Eine halbe Tagesreise, bevor die Heimkehrer auf ihrem Weg zurück nach Worms den Rhein erreicht hatten, hatte Hagen sich von ihnen getrennt. Er gab keine Erklärung, sagte nur Lebewohl und sprengte auf einem der drei Pferde davon, die sie nach dem Verlust von Lavendel und Hagens Streitroß einigen Flüchtlingen abgekauft hatten. Der Besitzer war froh gewesen, bei der Rückkehr in sein Heimatdorf einen Beutel klingenden Goldes mitzubringen; ihm und seiner Familie würde es die ersten Wochen nach dem Ende der Seuche erleichtern.
Es kam oft vor, daß Hagen für mehrere Tage spurlos verschwand, mindestens einmal in jedem Mond. Es gab viele Gerüchte darüber, wohin er ging, und die meisten Menschen bei Hofe waren überzeugt, er sei einem Frauenzimmer zugetan, in dessen Arme er sich heimlich zurückzog. Daß die Vorstellung, der düstere, gefühlskalte Hagen unterhalte eine verborgene Liebschaft, so abwegig schien, tat den Gerüchten keinen Abbruch. Ganz im Gegenteiclass="underline" Nicht wenige bewunderten ihn hinter vorgehaltener Hand für sein Talent der Verstellung.
Auch Kriemhild wußte nicht, wohin der dunkle Recke ging, wußte auch nicht, was es war, das ihn so oft in die Ferne trieb. An ein verstecktes Liebesnest aber konnte sie am allerwenigsten glauben. Mehr als einmal hatte sie den Ausdruck von Verzweiflung und Trauer in seinen Augen gesehen, wenn er heimgekehrt war, ein verzehrendes Leid, das er durch sein finsteres Auftreten vor allen anderen zu verbergen suchte.
Was immer die Ursache seines Verschwindens sein mochte, vielleicht war es gut, daß niemand außer ihm selbst die Wahrheit darüber wußte.
Jetzt beobachtete Kriemhild, wie er mit wogendem Federkragen im Portal des Hauptgebäudes verschwand. Erst dann blickte sie wieder zum Himmel empor. Keine Spur von den weißen Adlern, nur die beiden Raben hockten starr wie Wasserspeier über dem Tor.
Kriemhild dachte an Etzel, und an ihren Streit mit Hagen über das Schicksal des Prinzen. Hagen hatte ihn mit nach Worms nehmen wollen, nur deshalb hatte er ihn aus Berenikes Burg gerettet, doch Kriemhild war dagegen gewesen. Als alle Versuche, ihn zu überzeugen, fehlgeschlagen waren, hatte sie sich auf ihre Stellung als Schwester des Königs berufen: Laut und vielleicht eine Spur zu barsch hatte sie Hagen den Befehl gegeben, Etzel laufen zu lassen. Schweigend hatte der Krieger gehorcht.
So war Etzel nach Osten gezogen, gerüstet und bewaffnet wie ein Königssohn und doch auf Schusters Rappen wie ein einfacher Wanderer. Ihr Abschied war förmlich gewesen und ohne große Wärme, ganz so, wie es den Kindern verfeindeter Herrschersippen anstand.
Während die Raben sich von den Zinnen erhoben und langsam hinüber zum Dach des Thronsaals schwebten, setzte sich Kriemhild rittlings auf den Fenstersims und ließ ein Bein an der Außenseite baumeln. Der Gedanke an Etzel wurde von ihren Gefühlen für Jodokus überlagert. Es tat immer noch weh, an ihn zu denken, viel mehr, als sie sich eingestehen wollte.
Unten im Hof zeigte jemand mit ausgestrecktem Arm zu ihr herauf, und ein sorgenvolles Raunen ging durch das Gewimmel der Bediensteten. Nahmen sie wirklich an, ihre Prinzessin könnte in den Tod stürzen? Kriemhild lachte leise und verscheuchte sie mit einer herrischen Geste. Dabei fiel ihr Blick auf einen Trupp von Jägern, der mit reicher Beute zum Tor hereinritt. Die Gehilfen trugen erlegtes Rotwild und ganze Bündel toter Hasen und Kaninchen. Ein Falkner ritt an der Spitze, sein Vogel kauerte reglos auf seiner Schulter.
Behende sprang Kriemhild zurück in die Turmkammer und rannte mit wehendem Kleid die Wendeltreppe hinab. Sie würde den Falkner bitten, sie seine Kunst zu lehren.
Und plötzlich lief sie schneller, nahm immer zwei, drei Stufen auf einmal.
Ein guter Tag, dachte sie beschwingt und vergaß noch im selben Augenblick, wofür.
ENDE
Chronologie
Die Nibelungen
Die große Saga »Die Nibelungen« ist keine Nacherzählung des weltberühmten Nibelungenliedes. Jeder Roman erzählt eine neue, aufregende Geschichte um einen Helden des Epos. Gleichwohl lassen sich die Romane in die Chronologie des Liedes einordnen.
Chronologie
Die Flammenfrau
Der Rabengott
Hagen kommt nach Worms und beginnt seinen Aufstieg zum Berater.