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Hätte man sie in diesem Augenblick gefragt, so hätte sie wohl bestätigt, daß es kaum noch schlimmer hätte kommen können. Doch, freilich, auch das erwies sich als frommer Wunsch.

Denn plötzlich ertönte ein Knacken, und die Astgabel, auf der sie saß, neigte sich nach unten - ganz langsam, unmerklich fast, aber doch unaufhaltsam. In blinder Panik griff Kriemhild nach einem anderen Ast, irgendwo über ihr. Sie hatte Glück... etwa drei Herzschläge lang. Dann brach die Gabel vollends ab, und obgleich Kriemhild mit beiden Händen an dem oberen Ast baumelte, polterte das geborstene Holz in die Gruppe der Frauen am Fuß der Eiche. Zwei, die getroffen wurden, schrien vor Schmerz und Überraschung auf, während die Blicke der anderen nach oben zuckten.

Kriemhild schenkte ihnen ein unschuldiges Lächeln - dann trafen sie schon die ersten Steine, die die empörten Weiber nach ihr schleuderten. Einige der Männer am Ufer wurden aufmerksam, und bald schon stand die keifende Menge unterhalb der Eiche, traktierte Kriemhild mit Wurfgeschossen und schrie nach ihrem Blut.

Ein tückischer Wurf traf sie am Kopf, ein anderer am rechten Arm. Ihre Finger gaben nach, dann fiel sie. Stürzte mitten in die brüllende Meute.

Jeder Ansatz von Gegenwehr, jedes Wort der Vermittlung, sogar jeder Schmerzensschrei ging im Tumult der Rasenden unter. Hiebe und Tritte prasselten auf Kriemhild ein, ohne daß sie verstand, was sie diesen Leuten angetan hatte. Manche zerrten an ihren Armen, ihrer Kleidung, dann auch an ihrem Haar. Brüllend wurde sie ans Ufer geschleift. Sie hörte, was die Menschen riefen, aber es machte keinen Sinn. Sie vernahm Bruchstücke von Sätzen, dann nur einzelne Wörter, Silben. Die Angst vor der Plage mußte sie alle um den Verstand gebracht haben.

Hände und Füße preßten Kriemhild mit Bauch und Gesicht in den weichen Schlamm. Feuchtigkeit und Dreck drangen in ihre Ohren, und einen seltsamen, unwirklichen Augenblick lang herrschte Stille - dann bekam sie keine Luft mehr, riß den Kopf zurück und fand sich gleich wieder inmitten des tobenden Gekeifes. Kriemhild spürte, wie Seile um ihren Körper geschlungen wurden, und ihr dämmerte, was ihr bevorstand. Noch einmal bäumte sie sich voller Verzweiflung auf, und da sah sie, daß man den Jungen und den Toten zurück an Land gezogen hatte. Alles weitere aber verblaßte angesichts neuerlicher Schläge und Schreie, als man Kriemhild zurück in den Schmutz drückte. Etwas wurde auf ihren Rücken gebunden, fest angezurrt. Das Etwas bewegte sich schwach, halb ertrunken, völlig erschöpft. Der Jüngling!

Hände rissen sie hoch, schleuderten beide gemeinsam wie verwachsene Mißgeburten in den Kahn, ruderten sie hinaus auf den Strom.

Dann - Wasser!

Kriemhild strampelte in wilder Panik, und der Junge tat es ihr gleich. Herzschläge lang trieb er an der Oberfläche, dann gelang es Kriemhild, ihn mit einem Ellbogenstoß in die Rippen zu überraschen. Er gab nach, sie drehten sich, und Luft strömte in Kriemhilds Lungen. Doch nur einen Augenblick lang. Dann wurde sie selbst schon wieder zur Seite gerissen. Sie rotierten um sich selbst, und abermals geriet Kriemhild unter Wasser, während der Junge über ihr durchatmen konnte.

Das Brausen und Gurgeln des Flusses war ohrenbetäubend. Luftblasen umwirbelten sie wie ein Insektenschwarm. Panisch schlug und trat Kriemhild um sich, und irgendwie gelang es ihr - vielleicht mit Hilfe der Strömung -, erneut nach oben zu kommen. Hustend und sich krümmend hing der Junge wie ein Anhängsel an ihrem Rücken. Und während sie selbst wieder durchatmen konnte, dachte sie: Er ertrinkt, wenn ich ihm nicht helfe!

Noch einmal schnappte sie verzweifelt nach Luft, dann drehte sie sich freiwillig zur Seite, wurde unter die Oberfläche gerissen und hoffte, daß ihre Hilfe für den Jungen nicht zu spät kam. Sie betete, daß er das gleiche Mitleid mit ihr zeigen würde! Wenn sie sich abwechselten, wenn es ihnen trotz aller Panik und Angst gelang, einen klaren Kopf zu behalten, dann konnten sie überleben. Zumindest eine Weile. Vielleicht, bis sie ans andere Ufer geschwemmt wurden. Vielleicht bis -

Das Gewicht des Jungen riß sie herum, und nun war sie es, die oben trieb. Er hat es begriffen! jubelte sie in Gedanken. Er ist freiwillig untergetaucht! Sie holte Luft, einmal, zweimal, dann rollte sie sich zur Seite, gab ihm Gelegenheit zum Atmen. So machten sie es vier- oder fünfmal, dann bemühte sich Kriemhild neben dem Atemholen um einen Blick ans Ufer. Verschwommen sah sie eine Ansammlung heller Punkte, sehr klein, fast wie Glühwürmchen - Fackeln, die schnell in der Ferne zurückblieben. Ja, bei Gott, der Fluß trug sie stromabwärts, fort von den Wahnsinnigen!

Die Anstrengung des ständigen Drehens, Luftholens, Untertauchens drohte Kriemhild zu überwältigen. Lange würde sie nicht mehr durchhalten. Sie hätten ihre Bewegungen besser aufeinander abstimmen müssen, doch so lange sie sich untereinander nicht verständigen konnten, war das unmöglich. Sie konnten nur darauf vertrauen, innerhalb der nächsten Augenblicke ans Ufer gespült zu werden.

Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als ihre Knie über harten Stein schrammten. Dann wurde sie auch schon wieder herumgerissen, schnappte nach Luft und sah durch einen Wasserschleier die riesenhaften Silhouetten hoher Bäume vor dem goldenen Abendhimmel. Unter ihr bäumte sich der Junge auf, und ein Schmerzensschrei drang durch das Wasser empor. Fester Grund, endlich!

Wenig später lagen sie im seichten Uferwasser, beide auf der Seite, immer noch gefesselt, und atmeten tief und lange durch.

Der Junge brachte als erster ein paar zusammenhängende Worte hervor. »Wer... wer bist du?«

Kriemhild hustete, Wasser lief ihr aus dem Mund. »Wer, zum Teufel, bist du? Und warum hast du uns das eingebrockt?«

»Uns?« Er verrenkte sich fast den Hals bei dem Versuch, sie anzusehen. Vergeblich. Die Fesseln saßen zu eng, und beide keuchten schmerzerfüllt auf.

»Bleib gefälligst ruhig liegen!« fauchte Kriemhild ihn an. »Oder willst du uns beide erdrosseln?«

Ihre Kratzbürstigkeit verwirrte ihn. »Hab ich dich vorher schon mal gesehen?«

»Du siehst mich ja nicht einmal jetzt!« Mittlerweile hatte sie ihre Sinne so weit beieinander, daß sie vorsichtiger wurde. Niemand durfte erfahren, wer sie wahr. Zu leicht konnte sie Spitzbuben in die Hände fallen, die sich ein schönes Lösegeld für sie ausrechnen mochten. »Warte«, sagte sie dann, als sie sich an den verbliebenen Dolch in ihrem Stiefel erinnerte; den anderen hatte sie beim Gerangel mit der aufgebrachten Meute verloren. »Ich will versuchen -«

Beide stöhnten vor Schmerz, als Kriemhild das Bein anzog und mit den Fingern nach dem Stiefelschaft tastete. Die Seile schnürten ihnen Brust und Bauch ab.

»Ich hab ihn!« preßte sie schließlich triumphierend hervor. Als er nicht reagierte, fragte sie: »He, lebst du noch?«

»Nein.«

Das Abendrot brach sich auf der blanken Dolchklinge, als Kriemhild vorsichtig die Seile über ihrem Oberkörper durchtrennte. Augenblicke später waren sie frei, rollten voneinander fort und blieben erschöpft auf dem Bauch im seichten Wasser liegen.

Als Kriemhild zu dem Jungen hinüberschaute, bemerkte sie, daß er sie eingehend musterte.