»Wirst du einwilligen, dass jemand deine Gedanken liest, um die Wahrheit deiner Worte zu bestätigen?«, fragte Kalia. Plötzlich herrschte tiefes Schweigen im Raum.
»Nein!«, erwiderte Lorkin.
Gemurmelte Worte und Ausrufe folgten. Er begegnete Kalias Blick und hielt ihm stand. Für wie dumm hält sie mich? Wenn ich jemandem erlaube, meine Gedanken zu lesen, werden sie nach dem Geheimnis der Heilkunst suchen, und dann kann ich meine Hoffnung vergessen, jemals wieder von hier fortzukommen.
Es gab keine weiteren Fragen. Riaya tauschte einen Blick mit allen Frauen am Tisch, dann sah sie Lorkin an.
»Vielen Dank, Lorkin, dass du uns Auskunft gegeben hast. Bitte, tritt an den Eingang.«
Er nickte ihr gewohnheitsmäßig respektvoll zu, dann nickte er auch den sechs Frauen und der Königin zu, damit man seine Geste nicht dahingehend deutete, dass er der Vorsitzenden eine ungehörige Gunst erwies. Als er in der Nähe des Eingangs die Führerin entdeckt hatte, die ihn in den Raum gebracht hatte, ging er zu ihr hinüber.
Sie musterte ihn nachdenklich, dann nickte sie. »Das hast du gut gemacht«, murmelte sie.
»Danke«, erwiderte er. Er schaute durch den Raum zu Tyvara hinüber. Sie runzelte die Stirn, aber als er ihrem Blick begegnete, schenkte sie ihm ein angespanntes Lächeln.
»Wir werden jetzt beraten«, erklärte Riaya.
Während die acht Frauen am Tisch sich zu unterhalten begannen, schwiegen auch die Zuschauer nicht länger. Lorkin versuchte, einzelne Gespräche in dem Stimmengewirr auszumachen, konnte aber nicht mehr auffangen als hier und da einige Worte. Die Anführerinnen am Tisch hatten offensichtlich eine magische Barriere errichtet, die sie gegen den Lärm abschirmte. Also betrachtete er, statt zu lauschen, die Menschen im Raum in der Hoffnung, so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen, bevor man ihn in den fensterlosen Raum zurückbrachte.
Auf den Stufen saßen viele Paare, wie ihm auffiel, aber alle anderen waren ausschließlich Frauen. Die Menschen, die an den Wänden standen, waren dagegen größtenteils männlichen Geschlechts. Die Kleidung aller Anwesenden war schlicht, obwohl einige der Verräterinnen – Männer wie Frauen – praktischere Hosen und Tuniken trugen, während andere mit langen, gegürteten Gewändern aus feinerem Tuch bekleidet waren. Es überraschte ihn zu sehen, dass sowohl Männer als auch Frauen diese langen Kleider trugen.
Die Farbe des Stoffs reichte von ungefärbtem Weiß zu dunklen Farben, aber keine davon war leuchtend oder kräftig. Er vermutete, dass es schwer war, Farbstoffe in die Stadt zu bringen, und angesichts des begrenzten Raums, um Getreide anzubauen, hatten gewiss Pflanzen Vorrang, die der Ernährung dienten.
Obwohl er versuchte, seine Aufmerksamkeit auf das Publikum zu richten, konnte er nicht umhin, ab und an zu Tyvara hinüberzuschauen. Wann immer er das tat, ertappte er sie dabei, dass sie ihn beobachtete. Sie lächelte jedoch nicht noch einmal. Sie wirkte nachdenklich und besorgt.
Schließlich erhob sich Riayas Stimme über den Lärm im Raum. »Wir haben unsere Beratungen beendet«, verkündete sie.
Stille kehrte ein. Riaya sah die anderen Frauen am Tisch an, dann wandte sie sich Tyvara zu.
»Du hast angeboten, Sprecherin Savara zu gestatten, deine Gedanken zu lesen. Wir haben, wie das Gesetz es verlangt, alle anderen Möglichkeiten in Betracht gezogen, aber ich kann keinen anderen Weg entdecken, deine Behauptungen zu bestätigen. Tritt bitte vor.«
Aus den Reihen der Zuschauer kamen leise Stimmen und Getuschel. Lorkin dachte an ein Bruchstück eines Gesprächs zwischen Chari und Tyvara zurück, von der Reise in die Berge. Tyvara hatte gesagt, sie werde den Verräterinnen erlauben, ihre Gedanken zu lesen. Chari war schockiert gewesen. »Dös kannst du nicht«, hatte sie gezischt. »Dw hast es versprochen…«
Lorkin beobachtete, wie die Frau, die ihm das Leben gerettet hatte, mit hocherhobenem Kopf vor ihre Anführerinnen trat. Eine Woge jäher, schwindelerregender Zuneigung schlug über ihm zusammen. Sie ist so stolz. So schön. Dann verdarben ihm ein vertrauter Zweifel und Ärger den Augenblick. Ich wünschte, ich wüsste, ob Chari recht hat oder nicht. Wenn sie unrecht hat, möchte ich mich nicht zum Narren machen, indem ich versuche, Tyvara für mich zu gewinnen. Aber wenn sie recht hat… wenn Tyvara mich mag …es sich aber zur Gewohnheit macht, jene wegzustoßen, die sie bewundern… habe ich die Entschlossenheit, weiter um sie zu werben?
Jede Faser seines Wesens war davon überzeugt, dass er in der Tat genug Entschlossenheit besaß.
Er beobachtete, wie Savara aufstand und ein Zeichen machte. Tyvara trat an den Tisch und neigte den Kopf. Die ältere Frau umfasste Tyvaras Kopf und schloss die Augen.
Eine lange Pause folgte, während derer alle die beiden erwartungsvoll beobachteten. Als Savara schließlich die Hände sinken ließ, sagte sie nichts. Sie setzte sich, und Tyvara kehrte an ihren früheren Platz zurück.
»Was hast du erfahren?«, fragte Riaya.
»Alles, was Tyvara uns erzählt hat, ist wahr«, antwortete Savara.
Ein allgemeines Seufzen lief durch den Raum. Riaya legte die Hände auf den Tisch.
»Dann wird es Zeit abzustimmen.« Sie sah zuerst Tyvara an, dann die Zuschauer. »Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass Tyvara Riva nicht hätte töten müssen. Sie hätte Riva von Lorkin wegstoßen oder die beiden auf andere Weise trennen sollen. Aber wir räumen auch ein, dass kaum Zeit zum Nachdenken war. Tyvara handelte, um sicherzustellen, dass die Wünsche der Königin erfüllt wurden, und um eine Situation zu verhindern, die vielleicht zu einer Bedrohung für das Sanktuarium geführt und unsere Leute in Sachaka noch mehr gefährdet hätte.« Sie hielt inne und sah die Sprecherinnen an. »Soll Tyvara für die Ermordung Rivas hingerichtet werden?«
Von den sechs Frauen am Tisch hoben zwei die Hand. Die übrigen hielten die Hände unten. Da Kalia die Hand gehoben hatte, vermutete Lorkin, dass dies das Zeichen der Zustimmung war.
»Vier dagegen, zwei dafür«, fasste Riaya zusammen. Sie betrachtete die Zuschauer. Zu Lorkins Überraschung machten auch sie die eine oder andere Geste. »Die Mehrheit ist dagegen«, erklärte Riaya. Sie sah die Königin an, die jetzt die Hand ausstreckte, die Innenfläche nach unten geneigt. »Wir sind alle der gleichen Meinung.«
Die Hände wurden heruntergenommen. Riaya wirkte erfreut, wie Lorkin bemerkte.
»Der Tod einer Mitverräterin ist eine ernste Angelegenheit«, fuhr sie fort. »Und ganz gleich was der Grund dafür war, eine Strafe muss folgen. Tyvara muss für die nächsten drei Jahre im Sanktuarium bleiben; danach darf sie eine Stellung als Späherin oder Wächterin annehmen und darauf hinarbeiten, die Verantwortung, die sie früher hatte, erneut zu übernehmen. Während dieser drei Jahre soll sie einen Tag von jeweils sechs dem Wohl von Rivas Familie widmen.« Riayas Blick wanderte wieder zu Tyvara hinüber. »Akzeptierst du dieses Urteil?«
»Ja.«
»Dann ist es entschieden. Es steht dir frei zu gehen. Diese Verhandlung ist beendet, und die Gesetze des Sanktuariums wurden gewahrt. Mögen die Steine weiter singen.«
»Mögen die Steine weiter singen«, erwiderten die Zuschauer.
Unruhe brach im Raum aus, als alle sich erhoben. Lorkin beobachtete Tyvara. Sie blickte zu Boden. Sie schüttelte schwach den Kopf, dann sah sie Savara an. Die ältere Frau lächelte wohlwollend. Dann zog sie fragend die Augenbrauen hoch, und ihr Blick wanderte zu Lorkin hinüber. Er blinzelte und sah, dass Tyvara die Augen verdrehte. Dann wandte sie sich um und schritt auf die Tür an der gegenüberliegenden Seite des Raumes zu. Er konnte Chari dort stehen sehen. Die junge Frau grinste. Sie blickte zu ihm herüber und zwinkerte ihm zu.
Jemand zupfte an seinem Ärmel. Die Führerin lächelte ihn an.
»Ich soll dich als Nächstes in dein Quartier geleiten.« Ihr Lächeln wurde breiter. »In dein neues Quartier.«
Die Niedergeschlagenheit, die sich gerade in ihm hatte breitmachen wollen, verschwand wieder. »Es hat nicht zufällig ein Fenster, oder?«