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Falls er jemals die Lücken in dieser Geschichte der Magie – seinem großen Lebenswerk – füllen wollte, konnte er nicht herumsitzen und hoffen, dass jemand ihm die richtigen Aufzeichnungen oder Dokumente schickte. Er musste selbst nach Antworten suchen, auch wenn das bedeutete, sein Leben aufs Spiel zu setzen oder Tayend zurückzulassen.

Einer Sache bin ich mir sicher. Auch wenn es Seiten an Tayend gibt, die mir nicht gefallen, bedeutet er mir doch so viel, dass ich sein Leben nicht riskieren will. Er wird mich begleiten wollen, und ich werde es ablehnen, ihn mitzunehmen.

Und Tayend würde nicht glücklich darüber sein. Ganz und gar nicht glücklich.

Sie war nicht größer geworden, seit Cery sie das letzte Mal gesehen hatte. Ihr dunkles Haar war schlecht geschnitten, ungleichmäßig, wo es ihr knapp auf die Schultern fiel. Den Pony trug sie schräg zur Seite gekämmt, so dass er eine ihrer geraden Brauen bedeckte. Und ihre Augen… diese Augen, die ihn, seit er sie das erste Mal gesehen hatte, immer schwach gemacht hatten. Groß, dunkel und ausdrucksvoll.

Aber im Moment war alles, was sie ausdrückten, skrupellose Entschlossenheit, während sie mit einem Kunden feilschte, der beinahe doppelt so groß und schwer war wie sie selbst. Cery konnte nicht hören, was gesprochen wurde, aber ihr Selbstbewusstsein und ihre trotzige Haltung entfachten in ihm einen törichten Stolz.

Anyi. Meine Tochter, dachte er. Meine einzige Tochter. Und jetzt mein einziges noch lebendes Kind…

Etwas krampfte ihm die Eingeweide zusammen, als er von Erinnerungen an die zerschlagenen Leiber seiner Söhne überflutet wurde. Er schob sie beiseite, aber der Schock und die Furcht blieben.

»Was soll ich tun, Gol?«, murmelte er. Sie befanden sich in einem privaten Raum im oberen Stockwerk eines Bolhauses, von dem aus man einen Blick auf den Markt hatte, zu dem der Stand seiner Tochter gehörte.

Sein Leibwächter machte Anstalten, sich dem Fenster zuzuwenden, hielt dann jedoch mitten in der Bewegung inne. Mit unsicherem Blick sah er Cery an.

»Ich weiß es nicht. Mir scheint, es ist gefährlich, mit ihr zu reden, und gefährlich, es nicht zu tun.«

»Und Zeit auf die Entscheidung zu verschwenden ist das Gleiche, als entscheide man gar nichts.«

»Ja. Wie weit vertraust du Donia?«

Cery dachte über Gols Frage nach. Die Besitzerin des Bolhauses, die nebenbei verschiedene »Dienste« anbot, war eine alte Kindheitsfreundin. Cery hatte ihr geholfen, das Lokal aufzubauen, nachdem ihr Mann, Cerys alter Freund Harrin, vor fünf Jahren an einem Fieber gestorben war, und seine Männer sorgten dafür, dass niemand ihr Schutzgeld abpressen konnte. Selbst wenn sie diese Verbindung nicht gehabt hätten oder sie ihm nicht dankbar für seine Hilfe gewesen wäre, schuldete sie ihm Geld und kannte die Gepflogenheiten der Diebe gut genug, um zu wissen, dass man sie nicht ohne Konsequenzen verriet.

»Mehr als irgendjemandem sonst.«

Gol lachte kurz auf. »Was nicht viel ist.«

»Nein, aber ich habe ihr bereits aufgetragen, ein Auge auf Anyi zu haben, obwohl sie nicht weiß, warum. Sie hat mich nicht enttäuscht.«

»Dann wird es nicht seltsam erscheinen, wenn du darum bittest, dass man das Mädchen zu dir führt, oder?«

»Nicht seltsam, aber… sie wäre neugierig.« Cery seufzte. »Bringen wir es hinter uns.«

Gol richtete sich auf. »Ich werde alles Notwendige veranlassen und dafür sorgen, dass niemand lauscht.«

Cery betrachtete den Mann, dann nickte er. Er schaute aus dem Fenster, während sein Leibwächter auf die Tür zuging, und bemerkte, dass ein neuer Kunde an die Stelle des letzten getreten war. Anyi beobachtete, wie der Mann mit einem Finger über die Klinge eines ihrer Messer strich, um die Schneide zu prüfen. »Und sorg dafür, dass ihr Stand bewacht wird, während sie hier ist.« »Natürlich.«

Nach einigen Minuten tauchten vier Männer aus dem Bolhaus auf und näherten sich Anyis Stand. Cery bemerkte, dass die anderen Standbesitzer so taten, als achteten sie nicht darauf. Einer der Männer richtete das Wort an Anyi. Sie schüttelte den Kopf und funkelte ihn an. Als er nach ihrem Arm griff, trat sie zurück und förderte blitzschnell ein Messer zutage, das sie auf ihn richtete. Er hob die Hände, die Innenflächen nach außen.

Ein langes Gespräch folgte. Anyi ließ die Hand mit dem Messer langsam sinken, steckte es aber nicht weg und hörte auch nicht auf, ihn anzufunkeln. Einige Male blickte sie flüchtig zum Bolhaus hinüber. Schließlich reckte sie das Kinn vor, und als er von ihrem Stand zurücktrat, stolzierte sie an ihm vorbei auf das Bolhaus zu, während sie ihr Messer wieder verschwinden ließ.

Cery stieß den Atem aus, den er angehalten hatte, und begriff, dass sein Magen in Aufruhr war und sein Herz zu schnell schlug. Plötzlich wünschte er, es wäre ihm in der vergangenen Nacht gelungen, ein wenig zu schlafen. Er wollte hellwach sein. Wollte keine Fehler machen. Wollte keinen Augenblick dieser einen Begegnung mit seiner Tochter versäumen, von der er hoffte, dass er sie sich erlauben konnte. Er hatte seit Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen, und damals war sie noch ein Kind gewesen. Jetzt war sie eine junge Frau. Wahrscheinlich suchten junge Männer ihre Aufmerksamkeit und ihr Bett…

Denk nicht zu viel darüber nach, sagte er sich.

Er hörte Stimmen und Schritte im Treppenhaus vor dem Zimmer, und sie kamen langsam näher. Mit einem tiefen Atemzug wandte er sich der Tür zu. Es folgte ein Moment der Stille, dann sagte eine vertraute Männerstimme einige ermutigende Worte, und nach dem Klang der Schritte zu urteilen setzte nur noch eine Person ihren Weg fort.

Als sie durch die Tür spähte, erwog er ein Lächeln, aber er wusste, dass er nicht in der Stimmung war, um damit überzeugen zu können. Er begnügte sich damit, ihren Blick mit einem Ausdruck zu erwidern, von dem er hoffte, dass er freundlichen Ernst übermittelte.

Sie blinzelte, dann weiteten sich ihre Augen, dann runzelte sie die Stirn und kam herein.

»Du!«, sagte sie. »Ich hätte erraten müssen, dass du es sein würdest.«

In ihrem Blick brannten Ärger und Anklage. Einige Schritte von ihm entfernt blieb sie stehen. Er zuckte unter ihrem Blick nicht zusammen, obwohl er ein vertrautes Gefühl der Schuld in ihm heraufbeschwor.

»Ja. Ich«, erwiderte er. »Setz dich. Ich muss mit dir reden.«

»Nun, ich will aber nicht mit dir reden!«, erklärte sie und wandte sich zum Gehen.

»Als ob du eine Wahl hättest.«

Sie hielt inne und blickte mit schmalen Augen über ihre Schulter. Langsam drehte sie sich wieder zu ihm um und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Also, was willst du?«, fragte sie, bevor sie einen dramatischen Seufzer ausstieß. Er hätte um ein Haar gelächelt. Die mürrische Resignation, gepaart mit Verachtung, war etwas, das viele Väter von jungen Menschen ihres Alters ertragen mussten. Aber ihre Resignation rührte eher von dem Wissen, dass er ein Dieb war, nicht von Respekt vor väterlicher Autorität.

»Dich warnen. Dein Leben ist… in noch größerer Gefahr als normalerweise. Es besteht die Möglichkeit, dass bald jemand versuchen wird, dich zu töten.«

Ihre Miene veränderte sich nicht. »Tatsächlich? Und warum?«

Er zuckte die Achseln. »Wegen der bloßen unglücklichen Tatsache, dass du meine Tochter bist.«

»Nun, das habe ich bisher recht gut überlebt.«

»Jetzt ist es etwas anderes. Das hier ist erheblich… unbändiger.«

Sie verdrehte die Augen. »Niemand benutzt dieses Wort noch.«

»Dann bin ich ein Niemand.« Er runzelte die Stirn. »Ich meine es ernst, Anyi. Denkst du, ich würde unser beider Leben aufs Spiel setzen, indem ich mich mit dir treffe, wenn ich mir nicht sicher wäre, dass es weit schlimmer sein könnte, wenn wir uns nicht treffen würden?«

Alle Verachtung und aller Ärger wichen plötzlich aus ihren Zügen, doch jetzt zeigte sie ihm eine Miene, die er nicht deuten konnte. Dann wandte sie den Blick ab.