»Warum bist du dir so sicher?«
Er holte tief Atem und stieß die Luft langsam wieder aus. Weil meine Frau und meine Söhne tot sind. Bei dem Gedanken überflutete ihn Schmerz. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es laut aussprechen kann. Er suchte nach Worten, dann holte er abermals tief Luft.
»Weil du seit gestern Nacht mein einziges lebendes Kind bist«, erklärte er.
Ihre Augen weiteten sich langsam, während sie die Nachricht aufnahm. Sie schluckte und schloss die Augen. Einen Moment lang blieb sie vollkommen reglos, eine Falte zwischen den Brauen, dann öffnete sie die Augen wieder und musterte ihn erneut.
»Hast du es Sonea erzählt?«
Die Frage verwunderte ihn. Warum hatte sie sie gestellt? Ihre Mutter war immer ein wenig eifersüchtig auf Sonea gewesen, vielleicht weil sie gespürt hatte, dass er einmal in das Hüttenmädchen, das später zur Magierin geworden war, verliebt gewesen war. Gewiss hatte Anyi Vestas Eifersucht nicht geerbt. Oder wusste Anyi mehr über Cerys fortgesetzte geheime Verbindung zu der Gilde, als sie wissen sollte?
Wie beantwortete man eine solche Frage? Sollte er überhaupt antworten? Er erwog die Möglichkeit, das Thema zu wechseln, war jedoch neugierig zu erfahren, wie sie auf die Wahrheit reagieren würde.
»Ja«, sagte er. Dann zuckte er die Achseln. »Zusammen mit anderen Informationen.«
Anyi nickte und erwiderte nichts und verriet damit frustrierend wenig über den Grund ihrer Frage. Sie seufzte und verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere.
»Was soll ich deiner Meinung nach tun?«
Verspätet begriff er, dass er sich nicht sicher war, was er ihr raten sollte. »Gibt es einen sicheren Ort, an den du gehen könntest? Menschen, denen du vertraust? Ich würde dir anbieten, dich zu beschützen, nur dass… Nun, sagen wir einfach, es hat sich herausgestellt, dass deine Mutter die richtige Entscheidung getroffen hat, als sie mich verließ, und…« Er hörte Bitterkeit in seiner Stimme und konzentrierte sich auf andere Gründe. »Meine eigenen Leute könnten umgedreht worden sein. Es wäre besser, wenn du dich nicht auf sie verlassen würdest. Bis auf Gol natürlich. Obwohl… es wäre klug, wenn wir eine Möglichkeit hätten, miteinander in Verbindung zu treten.«
Sie nickte, und es ermutigte ihn zu sehen, dass sie sich entschlossen aufrichtete. »Ich werde zurechtkommen«, sagte sie. »Ich habe… Freunde.«
Sie presste die Lippen zu einer dünnen Linie zusammen. Das war alles, was sie ihm erzählen würde, vermutete er. Kluge Entscheidung.
»Gut«, erwiderte er und stand auf. »Gib acht auf dich, Anyi.«
Sie musterte ihn nachdenklich, und einen Moment lang zuckten ihre Mundwinkel. Eine jähe Hoffnung stieg in ihm auf, dass sie verstand, warum er sich all die Jahre von ihr ferngehalten hatte.
Dann drehte sie sich auf dem Absatz um und stolzierte aus dem Raum, ohne auf eine Erlaubnis zu warten oder Lebewohl zu sagen.
4
Neue Verpflichtungen
Die Bäume und Büsche des Gildegartens kühlten den spätsommerlichen Wind zu einer angenehmen Brise ab. In einer der Nischen des Gartens saßen, gut beschattet von einem großen, dekorativen Pachi-Baum, zwei junge Magier. Während die letzten Spuren seines Katers zu verfliegen begannen, lehnte Lorkin sich an die Rückenlehne des Gartenstuhls und schloss die Augen. Der Gesang von Vögeln vermischte sich mit dem Klang ferner Stimmen und Schritte – und dem schrillen Geräusch von Verspottungen und Protesten irgendwo hinter ihm.
Dekker drehte sich zur gleichen Zeit um wie Lorkin. Hinter ihnen war eine Wand aus Büschen und Bäumen, so dass sie beide aufstanden, um über das Blätterwerk hinwegzuspähen. Auf der anderen Seite hatten vier Jungen einen weiteren umzingelt und stießen ihr Opfer hin und her.
»Blö-der Prol-li«, sangen sie. »Hat keine Fa-mi-lie. Immer schmud-delig. Im-mer stin-kig.«
»He!«, rief Dekker. »Lasst das! Oder ich werde dafür sorgen, dass ihr freiwillige Hilfe in den Hospitälern leistet.«
Lorkin verzog das Gesicht. Seine Mutter war nie glücklich über Lady Vinaras Idee gewesen, Novizen zu bestrafen, indem man sie zwang, in den Hospitälern zu helfen. Sie sagte, sie würden diese Arbeit niemals für lohnend oder nobel halten, wenn man von ihnen erwartete, dass sie den Wunsch hatten, sie zu meiden. Aber sie hatte nie genug Freiwillige, daher konnte sie sich nicht dazu überwinden, dagegen zu protestieren. Einige der Novizen, die man ihr zur Strafe geschickt hatte, hatten sich später tatsächlich für die heilende Disziplin entschieden, weil die Arbeit mit ihr sie inspiriert hatte, aber dafür hatten sie den Spott ihrer Mitschüler in Kauf nehmen müssen.
Die Novizen murmelten einige Entschuldigungen und flohen in verschiedene Richtungen. Als Lorkin und Dekker sich wieder setzten, erschienen im Eingang ihrer Nische zwei Magier.
»Ah! Dachte ich’s mir doch, dass ich deine Stimme gehört habe, Dekker«, sagte Reater. Perlers besorgtes Stirnrunzeln verblasste, als er die Freunde seines Bruders erkannte. »Habt ihr was dagegen, wenn wir uns zu euch gesellen?«
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Dekker und deutete auf die gegenüberliegende Bank.
Lorkin blickte von einem Bruder zum anderen und fragte sich, warum Perler die Stirn gerunzelt hatte. Reater schien sich allzu sehr darüber zu freuen, über sie gestolpert zu sein.
»Perler hat heute Morgen schlechte Neuigkeiten bekommen«, verkündete Reater. Dann wandte er sich an seinen Bruder. »Erzähl es ihnen.«
Perler sah Reater an. »Nicht schlecht für dich, hoffe ich.« Sein Bruder zuckte die Achseln und antwortete nicht, daher seufzte er und sah Dekker an. »Lord Maron ist von seinem Botschafterposten zurückgetreten. Er wird länger als erwartet brauchen, um die Angelegenheiten seiner Familie zu regeln. Also werde ich nicht nach Sachaka zurückkehren.«
»Du wirst dem neuen Botschafter nicht zur Seite stehen?«, fragte Lorkin.
Perler zuckte die Achseln. »Ich könnte, wenn ich wollte. Aber…« Er betrachtete seinen Bruder. »Auch ich habe einige Familienangelegenheiten, um die ich mich kümmern muss.«
Reater zuckte zusammen.
»Wer wird ihn denn ersetzen?«, wollte Dekker wissen.
»Irgendjemand meinte, Lord Dannyl habe sich beworben.« Reater grinste. »Vielleicht will er sich einmal die sachakanischen Männer –«
»Reater«, mahnte Perler streng.
»Was? Jeder weiß, dass er ein Knabe ist.«
»Weshalb es nicht komisch ist, wenn man rüde Witze darüber macht. Werd erwachsen und komm darüber hinweg.« Er verdrehte die Augen. »Außerdem will Lord Dannyl gar nicht nach Sachaka gehen. Er ist zu beschäftigt damit, Nachforschungen für sein Buch anzustellen.«
Lorkins Herz setzte einen Schlag aus. »Er hat mir gestern Abend erzählt, dass seine Forschungen nur langsam vorangehen. Vielleicht… vielleicht hofft er, dort ein wenig forschen zu können.«
Reater sah seinen Bruder von der Seite an. »Ändert das etwas an deiner Meinung? Au!« Er rieb sich den Arm, wo Perler ihn soeben geboxt hatte. »Das hat wehgetan.«
»Was der Sinn der Übung war.« Perler blickte nachdenklich drein. »Es wird interessant sein zu sehen, ob sich irgendjemand freiwillig für das Amt seines Gehilfen meldet. Die meisten Leute mögen bereit sein, Lord Dannyls Gepflogenheiten zu ignorieren, aber die wenigsten werden das Risiko eingehen wollen, dass man Spekulationen darüber anstellt, warum sie sich um das Amt seines Gehilfen beworben haben.«
Lorkin zuckte die Achseln. »Ich würde gehen.«
Die anderen starrten ihn an. Lorkin betrachtete ihre schockierten Gesichter und lachte.
»Nein, ich bin kein Knabe. Aber man kann mit Lord Dannyl gut auskommen, und seine Nachforschungen sind interessant – und lohnend. Ich wäre stolz, dazu beitragen zu können.« Zu seiner Überraschung wirkten sie weiterhin besorgt. Bis auf Perler, wie er bemerkte.
»Aber… Sachaka«, sagte Reater.
»Wäre das klug?«, fragte Dekker.
Lorkin blickte von einem zum anderen. »Perler hat es überlebt. Warum nicht auch ich?«