Bedauerlicherweise waren die Gilde und sämtliche Verbündete Länder dadurch verletzbar geworden.
Die Lösung der gegenwärtigen Gilde hatte darin bestanden, nur zwei Magiern Kenntnisse der schwarzen Magie zu gestatten. Einer konnte verhindern, dass der andere die Macht ergriff. Jeder hatte die Aufgabe, den anderen Schwarzmagier zu überwachen und nach irgendwelchen Anzeichen für verderbte Ambitionen bei ihm Ausschau zu halten. Diener wurden regelmäßig befragt, und man las ihre Gedanken, um festzustellen, ob der Magier, dem sie dienten, sich stärkte.
Sonea hatte keine andere Wahl gehabt, als zuzustimmen. Es war nicht so, als hätte sie die einmal erlernte schwarze Magie wieder vergessen können. Man hatte ihr mehrere der Kandidaten für die Position ihres Wächters vorgestellt und sie nach ihrer Meinung befragt. Kallen, dem sie zuvor nie begegnet war, da er vor der Invasion als Botschafter in Lan tätig gewesen war, hatte sie weder gemocht noch missbilligt. Aber die Höheren Magier hatten in ihm etwas gesehen, das ihnen gefiel, und Sonea hatte bald entdeckt, dass es seine unermüdliche Hingabe an jedweden Auftrag war, den man ihm zuwies.
Bedauerlicherweise bestand sein Auftrag nun darin, sie zum Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit zu machen. Obwohl er niemals unhöflich war, waren seine steten Anstrengungen sie betreffend ermüdend. Es wäre schmeichelhaft gewesen, wenn es nicht so lästig gewesen wäre – und so absolut notwendig. Es war eine gute Entscheidung. Wenn ich tot bin, muss jemand meinen Platz einnehmen. Hoffentlich wird die Gilde eine kluge Wahl treffen, aber wenn sie es nicht tut, dann wird Kallens Vorsicht sie vielleicht retten.
Ohne Kallen aus den Augen zu lassen, beobachtete sie, wie er näher kam. Er erwiderte ihren Blick mit leidenschaftsloser Miene. Sie war nicht so hingebungsvoll darin, Kallen zu beobachten, wie er es in ihrer Überwachung war. Es war nicht so einfach, wenn man einen Sohn großzuziehen hatte. Aber wann immer Kallen in der Nähe war, heuchelte sie aufmerksame Wachsamkeit und hoffte, es würde die wenigen Magier beruhigen, denen in den Sinn gekommen sein könnte, dass er einer Überwachung ebenso bedurfte wie das ehemalige Hüttenmädchen, das zu früh und weit über jedes verdiente Maß hinaus in eine mächtige Position aufgestiegen war.
Das Raunen der Stimmen um sie herum brach kurz ab, und ihre Aufmerksamkeit wurde auf Administrator Osen gelenkt.
»Novizendirektor Narren ist in Elyne, und die Ratgeber des Königs werden nicht an der Anhörung teilnehmen«, eröffnete er ihnen. »Da wir Übrigen zugegen sind, können wir genauso gut anfangen.«
Die Höheren Magier folgten ihm durch den Seiteneingang der Gildehalle und gingen auf ihre Plätze in den stufenförmigen Sitzreihen am Kopfende des Saals zu. Die Sitzordnung war nach Rang gestaffelt von oben nach unten. Sonea stieg neben dem Hohen Lord Balkan zu ihrem Platz hinauf und sah zu, wie die Türen am anderen Ende geöffnet wurden und der Saal sich mit Magiern füllte. Zwei kleine Gruppen versammelten sich links und rechts vor den Sitzreihen der Höheren Magier. Es waren Antragsteller und die aktiven Gegner des Antrags. Die übrigen Magier nahmen Plätze zu beiden Seiten der Halle ein.
Sobald alle saßen, eröffnete Osen die Anhörung.
»Ich rufe Lord Pendel auf, den Sprecher der Antragsteller, damit er ihre Sache darlegen möge.«
Ein gutaussehender junger Mann, dessen Vater ein Unternehmen mit Schmieden, Gießereien und Schlossereien betrieb, trat vor.
»Als vor zwei Jahrzehnten Männern und Frauen der unteren Klassen Imardins gestattet wurde, der Gilde beizutreten, wurden viele weise und praktische Regeln erlassen«, las Pendel von einem Stück Papier ab, das er in der Hand hielt. »Aber eine so unerwartete und zwangsläufig hastige Veränderung der Praktiken der Gilde schloss, wenig überraschend, einige Regeln ein, die sich mit der Zeit als unpraktisch erwiesen haben.«
Die Stimme des jungen Mannes war ruhig und klar, wie Sonea anerkennend feststellte. Er war als Sprecher für die Antragsteller eine gute Wahl.
»Eine solche Regel verfügt, dass Novizen und Magier keine Verbindung zu Kriminellen und Leuten schlechten Rufes haben dürfen«, fuhr Pendel fort. »Obwohl es Fälle gegeben hat, bei denen Novizen verdientermaßen aus der Gilde entfernt wurden und ihnen aufgrund fortbestehender Verbindung mit zwielichtigen Personen oder Gruppen in der Stadt der Zugang zur Magie verwehrt wurde, gibt es weit mehr Fälle, da die Auslegung dieser Regel zu Ungerechtigkeit geführt hat. In den vergangenen zwanzig Jahren haben letztere Fälle bewiesen, dass die allgemeine Auslegung von ›schlechtem Ruf‹ jede Person von gemeiner Herkunft einschließt. Diese Regel hat ungerechterweise Väter und Mütter von ihren Söhnen und Töchtern ferngehalten und unnötigen Kummer und Groll verursacht.«
Pendel hielt inne, um sich im Raum umzuschauen. »Diese Regel gibt der Gilde den Anstrich der Scheinheiligkeit, denn es sind niemals Magier aus höheren Klassen für einen Verstoß dagegen bestraft worden, obwohl man sie regelmäßig in Spielhäusern, Glühhäusern und Bordellen antrifft.«
Pendel blickte zu den Höheren Magiern auf und lächelte nervös.
»Trotzdem bitten wir nicht darum, dass die Magier und Novizen höherer Klassen genauer beobachtet und eingeschränkt werden. Wir bitten nur um die Aufhebung der existierenden Regel, damit jene von uns, die in niedere Klassen geboren wurden, ihre Familien und Freunde ungestraft besuchen können.« Er verneigte sich. »Danke, dass Ihr unseren Antrag angehört habt.«
Osen nickte, dann wandte er sich der anderen kleinen Gruppe von Magiern zu, die vorne im Raum an der Seite standen.
»Ich rufe Lord Regin auf, den Sprecher der Antragsgegner. Er möge vortreten und antworten.«
Als ein Mann aus der Gruppe der Gegner seinen Platz einnahm, regte sich in Sonea eine alte Abneigung. Mit ihr kamen Erinnerungen daran, verspottet und überlistet worden zu sein, Erinnerungen an Sabotage ihrer Arbeiten, Erinnerungen daran, als Diebin betrachtet zu werden, nachdem sich ein gestohlener Stift unter ihren Besitztümern gefunden hatte. Auch war sie einst Gegenstand von Spekulationen gewesen, als bösartige Gerüchte ausgestreut worden waren, nach denen ihre Beziehung zu Rothen mehr sei als nur die einer Novizin zu ihrem Lehrer.
Diese Erinnerungen brachten Ärger mit sich, aber es gab noch andere, bei denen sie noch immer schauderte. Erinnerungen daran, durch die Flure der Universität gejagt zu werden, von einer Bande von Novizen in die Enge getrieben, gefoltert, gedemütigt und magisch wie körperlich erschöpft zurückgelassen zu werden.
Der Anführer dieser Bande und Drahtzieher all ihrer Leiden in jenen frühen Jahren an der Universität war Regin gewesen. Obwohl sie ihn zu einem fairen Kampf in der Arena herausgefordert und dort besiegt hatte, hatte er während der Ichani-Invasion mutig sein Leben riskiert, und obwohl er sich sogar für all das entschuldigt hatte, was er ihr angetan hatte, konnte sie ihn nicht ansehen, ohne ein Echo der Demütigung und der Furcht zu verspüren, die sie einst erlitten hatte. Und diese Gefühle brachten Wut und Abneigung mit sich.
Ich sollte darüber hinwegkommen, dachte sie. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich es kann. Geradeso, wie ich nicht denke, dass ich jemals aufhören werde, einen Hauch Selbstgefälligkeit zu verspüren, wann immer einer der Magier aus den Häusern vorgestellt wird, ohne dass Name und Titel seiner Familie verkündet werden.
Neben der Entscheidung, auch Personen von außerhalb der Häuser in die Gilde aufzunehmen, hatte man beschlossen, dass die Namen von Familie und Haus bei Zeremonien der Gilde nicht länger benutzt werden sollten. Von allen, die Magier wurden, erwartete man, dass sie ihr Leben für die Verteidigung der Verbündeten Länder aufs Spiel setzten, daher sollte allen das gleiche Maß an Respekt gezollt werden. Da außerhalb der Häuser geborene Imardianer keine Familien- oder Hausnamen hatten, wurde die Gewohnheit, diese Namen für jene auszurufen, die sie besaßen, vollkommen fallengelassen.
Falls Regin sich durch die Weglassung seines Familien- und Hausnamens herabgesetzt fühlte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Auch die Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwurde, verstörte ihn nicht im Mindesten. Er wirkte beinahe gelangweilt. Er hatte keine Notizen mitgebracht, aus denen er vorlesen konnte, sondern ließ lediglich den Blick einmal durch den Raum wandern und begann dann zu sprechen.