Die neue Straße hatte wichtige Verbindungen des alten Wildwegen zerschnitten. Es würden sicherlich bereits Anstrengungen unternommen, neue Tunnel zu bauen – davon war Cery überzeugt –, aber das würde seine Zeit dauern, und da fast die Hälfte der ehemals ansässigen Bevölkerung zum Wegzug gezwungen worden war, schien sich der Charakter des Viertels bereits unwiderruflich geändert zu haben.
Cery fühlte sich im Freien wie immer unbehaglich. Und nach der Begegnung mit dem Räuber war seine Unruhe noch gewachsen.
»Denkst du, er ist ausgeschickt worden, um mich zu prüfen?«, fragte er Gol.
Gol antwortete nicht sofort, und sein langes Schweigen sagte Cery, dass er gründlich über die Frage nachdachte.
»Ich bezweifle es. Höchstwahrscheinlich hatte er lediglich fatales Pech.«
Cery nickte. Ich bin seiner Meinung, aber die Zeiten haben sich verändert. Die Stadt hat sich verändert. Manchmal ist es so, als lebe man in einem fremden Land. Oder so, wie ich mir das Leben in einer anderen Stadt vorstelle, da ich Imardin niemals verlassen habe. Unvertraut. Andere Regeln. Gefahren, wo man sie nicht erwartet. Man kann gar nicht genug aufpassen. Und ich stehe schließlich vor der Begegnung mit dem meistgefürchteten Dieb in Imardin.
»Ihr da«, erklang eine laute Stimme. Zwei Wachsoldaten kamen auf sie zu; einer von ihnen hielt seine Laterne hoch. Cery berechnete die Entfernung zur anderen Straßenseite, dann seufzte er und blieb stehen.
»Ich?«, fragte er und wandte sich den Wachsoldaten zu. Gol sagte nichts.
Der größere der beiden Männer blieb einen Schritt hinter seinem untersetzten Gefährten stehen. Er antwortete nicht, sondern schaute einige Male zwischen Gol und Cery hin und her, bis sein Blick schließlich auf Cery ruhen blieb.
»Nennt eure Adresse und eure Namen«, befahl er.
»Cery von der Flussstraße, Nordseite«, antwortete Cery.
»Ihr beide?«
»Ja. Gol ist mein Diener. Und Leibwächter.«
Der Wachmann nickte und würdigte Gol kaum eines Blickes. »Euer Ziel?«
»Eine Besprechung mit dem König.«
Der stillere Wachsoldat sog scharf den Atem ein, was ihm einen Blick von seinem Vorgesetzten eintrug. Cery beobachtete die Männer, und es erheiterte ihn, dass beide – erfolglos – versuchten, ihr Entsetzen und ihre Furcht zu verbergen. Man hatte ihm aufgetragen, ihnen diese Information zu geben, und obwohl es eine geradezu lächerliche Behauptung war, machte der Wachmann den Anschein, als glaube er ihm. Oder – was wahrscheinlicher war – er verstand, dass es sich um eine verschlüsselte Nachricht handelte.
Der größere Wachmann straffte die Schultern. »Dann setzt euren Weg fort. Und… gebt auf euch acht.«
Cery drehte sich um und ging, dicht gefolgt von Gol, über die Straße. Er fragte sich, ob die Nachricht ihnen verraten hatte, mit wem genau Cery sich traf, oder ob sie nur wussten, dass jemand, der diese Worte sagte, nicht aufgehalten werden durfte.
So oder so, er bezweifelte, dass er und Gol zufällig auf eine korrupte Wache gestoßen waren. Es hatte schon immer Wachsoldaten gegeben, die bereit waren, mit den Dieben zusammenzuarbeiten, aber der Hang zur Korruption hatte zugenommen und war allgegenwärtiger denn je. Es gab noch ehrliche, anständige Männer in der Wache, die danach trachteten, schwarze Schafe in ihren Reihen bloßzustellen und zu bestrafen, aber sie standen in einer Schlacht, die eigentlich schon seit einiger Zeit verloren war.
Alle sind mit der einen oder anderen Form von internen Streitigkeiten beschäftigt. Die Wache kämpft gegen die Korruption in ihren Reihen, die Häuser liegen untereinander in Fehde, die reichen und armen Novizen und Magier in der Gilde hacken aufeinander herum, die Verbündeten Länder können sich in der Sachaka-Frage nicht einigen, und die Diebe liegen miteinander im Krieg. Faren hätte das alles sehr unterhaltsam gefunden.
Aber Faren war tot. Im Gegensatz zu den übrigen Dieben war er im Winter vor fünf Jahren an einer vollkommen normalen Lungenentzündung gestorben. Cery hatte zuvor schon jahrelang nicht mit ihm gesprochen. Der Mann, den Faren zu seinem Nachfolger ausgebildet hatte, hatte die Zügel seines kriminellen Reiches ohne Wettbewerb oder Blutvergießen übernommen. Der Mann, der sich Skellin nannte.
Der Mann, mit dem Cery sich heute Nacht treffen würde.
Während Cery durch den kleineren der beiden noch erhaltenen Teile von Wildwegen ging und dabei die Rufe von Huren und Buchmacherjungen ignorierte, überdachte er, was er über Skellin wusste. Faren hatte die Mutter seines Nachfolgers bei sich aufgenommen, als Skellin noch ein Kind gewesen war, aber ob die Frau Farens Geliebte oder seine Ehefrau gewesen war oder ob sie nur für ihn gearbeitet hatte, war unbekannt. Der alte Dieb hatte die beiden abgeschirmt und geheim gehalten, wie die meisten Diebe es mit Menschen, die sie liebten, tun mussten. Skellin hatte sich als ein talentierter Mann erwiesen. Er hatte viele Unternehmen der Unterwelt übernommen und etliche selbst ins Leben gerufen, und dabei hatte es nur wenige Fehlschläge gegeben. Er stand in dem Ruf, gerissen und kompromisslos zu sein. Cery glaubte nicht, dass Faren Skellins absolute Skrupellosigkeit gebilligt hätte. Doch die Geschichten waren wahrscheinlich im Laufe der Zeit ausgeschmückt worden, so dass man nicht beurteilen konnte, wie verdient der Ruf des Mannes war.
Cery kannte kein Tier, das als »Skellin« bezeichnet wurde. Farens Nachfolger war der erste neue Dieb gewesen, der mit der Tradition, Tiernamen zu benutzen, gebrochen hatte. Es bedeutete natürlich nicht, dass »Skellin« zwangsläufig sein richtiger Name war. Jene, die das glaubten, hielten es für mutig von ihm, seinen Namen zu enthüllen. Jene, die es nicht glaubten, scherten sich nicht darum.
Sie bogen in eine andere Straße ein und gelangten in einen sauberen Teil des Bezirks. Sauber jedoch nur dem Anschein nach. Hinter den Türen dieser respektabel aussehenden Häuser lebten lediglich wohlhabendere Huren, Hehler und Auftragsmörder. Die Diebe hatten in Erfahrung gebracht, dass die – zu dünn besetzte – Wache nicht so genau hinsah, wenn nur der äußere Anschein respektabel war. Und im Zweifelsfall konnten auch ein paar kleine Spenden für die bevorzugten Wohltätigkeitsprojekte in der Stadt dem guten Ruf sehr förderlich sein.
Wie zum Beispiel die Hospitäler, die Sonea leitete, immer noch eine Heldin der Armen, obwohl die Reichen nur von Akkarins Bemühungen und Opfern während der Ichani-Invasion sprachen. Cery fragte sich häufig, ob sie ahnte, wie viel von dem Geld, das ihrer Sache gespendet wurde, aus korrupten Quellen kam. Und wenn sie es ahnte, kümmerte es sie?
Er und Gol verlangsamten ihr Tempo, als sie die Kreuzung erreichten, die Cery als Treffpunkt genannt worden war. Dort bot sich ihnen ein seltsamer Anblick.
Wo einst ein Haus gestanden hatte, füllte ein grüner, mit bunten Farben gesprenkelter Grasteppich die Lücke in der Bebauung. Zwischen den alten Grundfesten und eingestürzten Mauern wuchsen Pflanzen aller Größen. Und alle wurden von Hunderten von Lampen beleuchtet. Das »Sonnenhaus« war während der Ichani-Invasion zerstört worden, und der Besitzer hatte es sich nicht leisten können, es wieder aufzubauen. Er hatte sich im Keller der Ruine eingerichtet und seine Tage damit verbracht, seinen geliebten Garten dazu zu ermutigen, das Anwesen in Besitz zu nehmen – und die Einheimischen, ihn zu besuchen und sich daran zu erfreuen.
Es war ein seltsamer Treffpunkt für Diebe, aber Cery sah durchaus seine Vorteile. Das Grundstück war relativ offen – niemand konnte sich unbemerkt nähern oder lauschen – und doch öffentlich genug, dass jeder Kampf oder Überfall beobachtet werden würde, was hoffentlich Verrat und Gewalt vorbeugte.