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ISBN: 3426015706

Droemer/Knaur

Erscheinungsdatum: 1988

In memoriam Lulu Simmel

Dies ist ein Roman.

Die Handlung und alle Personen – mit Ausnahme der zeitgeschichtlichen – sind erfunden. Ebenso erfunden sind das von einigen Personen der Zeitgeschichte entworfene und unterzeichnete Beidseitige Geheimabkommen sowie die Gespräche und Aktivitäten ihrer politischen und militärischen Feinde in diesem Zusammenhang.

Ich versichere, daß der Fernsehsender Frankfurt, den es nicht gibt, keinesfalls stellvertretend für einen anderen Sender der Bundesrepublik, beispielsweise den Hessischen Rundfunk, steht. Der Dokumentarfilm, um den alles Geschehen kreist, ist desgleichen ein Produkt der Phantasie und darum natürlich niemals in achtundfünfzig Ländern der Erde ausgestrahlt worden. Sollte jener Dokumentarfilm – eine Hypothese – tatsächlich existieren, dann wird er nie zu unserer Kenntnis gelangen.

J. M. S .

Denn die einen sind im Dunkeln Und die andern sind im Licht Und man sieht die im Lichte Die im Dunkeln sieht man nicht. BERTOLT BRECHT, Schlußstrophe des Films »Die Dreigroschenoper«

Man traue keinem erhabenen Motiv für eine Handlung, wenn sich auch ein niedriges finden läßt.

EDWARD GIBBON (1737 – 1794)

ERSTES BUCH

Am 11. Februar 1984 gegen 18 Uhr ging ein gewisser Daniel Ross daran, sich in seiner Wohnung zu ebener Erde eines Hauses an der stillen Sandhöfer Allee in Frankfurt am Main das Leben zu nehmen. Der 11. Februar 1984 war ein Samstag. Ross hatte den Zeitpunkt für seinen Selbstmord umsichtig gewählt. Es besteht bei derartigen Unternehmungen, auch wenn die Methoden, die zum Freitod führen sollen, noch so sicher sind, stets die Gefahr, daß man gestört, vorzeitig entdeckt und ins Leben zurückgeholt wird, wobei nicht reparable Schäden des Gehirns und der Funktionen zahlreicher anderer Organe auftreten können. Darum gehen Selbstmörder häufig in den Wald, auf einen Berg, in eine Bootshütte an einem See, oder sie suchen einen Zeitpunkt aus, zu dem sie ihrer Überzeugung nach lange genug ungestört sind und erst aufgefunden werden, wenn es zu spät ist. Daniel Ross hatte einen Samstagnachmittag gewählt. Diesem folgten die Nacht zum Sonntag, der ganze Sonntag und die Nacht zum Montag. Dann erst kam wieder die Reinemachefrau. Die Erlebnisse des Ross in den vergangenen vier Monaten waren solcher Art, daß er guten Grund hatte, keinen Anruf, keinen Besuch, ja keinerlei Interesse irgendeines Menschen für sich und seinen Zustand zu erwarten. So sehr er darüber verzweifelt war, so sehr erfüllte ihn diese Lage indessen an jenem späten Nachmittag mit Frieden. In Frankfurt schneite es, aber nur ein wenig.

Also warf er sich, nun schon zum zweitenmal, eine hohle Hand voll weißer Kapseln in den Mund und spülte diese mit einem großen Schluck Whisky hinunter. Den Scotch trank er pur, im Glas waren nur Eiswürfel. Nun aß er ein halbes Schinkenbrot, sehr sorgsam kauend. muß etwas essen dazu, dachte er, sonst kotze ich das ganze Zeug wieder aus. Er saß an seinem Schreibtisch, auf dem eine grünbeschirmte Lampe brannte. Es gab kein anderes Licht in dem großen Arbeitszimmer voller Bücher. Das Fenster neben dem Schreibtisch ging auf einen verwilderten Garten hinaus, in dem sich kreischend zwei Katzen jagten. Ross wandte den Kopf. Die Scheibe spiegelte sein Gesicht, denn draußen war es dunkel geworden. Schnell sah er wieder weg. Dabei glitt sein Blick über den mit Manuskripten bedeckten Schreibtisch und blieb auf einer kleinen, schrägstehenden Silberplatte haften, die von einer Stütze gehalten wurde. Worte waren darauf eingraviert. Lies das noch einmal, dachte er. Es war deine glücklichste Zeit.

DIE WELT, IN DER WIR LEBEN, LÄSST SICH ALS DAS ERGEBNIS VON WIRRWARR UND ZUFALL VERSTEHEN; WENN SIE JEDOCH DAS ERGEBNIS EINER ABSICHT IST, muß ES DIE ABSICHT EINES TEUFELS GEWESEN SEIN. ICH HALTE DEN ZUFALL FÜR EINE WENIGER PEINLICHE UND ZUGLEICH PLAUSIBLERE ERKLÄRUNG.

BERTRAND RUSSELL

Darunter las er die handschriftliche Gravur:

FÜR DANIEL ZUM ERSTEN JAHRESTAG IN GROSSER LIEBE SIBYLLE

WIEN, 17. NOVEMBER 1971

So, sagte er zu sich selber, nun hast du noch einmal an sie gedacht. Nun mach weiter! Aus einem kleinen Schraubdeckelglas ließ er aufs neue weiße Kapseln in die hohle rechte Hand fallen. Er war Linkshänder. Alles, was er brauchte, hatte er zum Schreibtisch getragen: ein Glas, eine Flasche Whisky, Eiswürfel in einem kleinen silbernen Kübel, mehrere belegte Brote auf einem Teller und vier Packungen Nembutal – nun geöffnet, die Schraubdeckelgläser herausgenommen.

Es war ganz einfach gewesen, sich das Schlafmittel zu verschaffen. Er hatte wegen einer schweren Erkältung im Dezember des vergangenen Jahres einen Arzt in dem weit entfernten Stadtteil Eschersheim aufgesucht, ein kleines Ablenkungsmanöver inszeniert und im günstigsten Augenblick einen Block mit Rezepten gestohlen. Sie waren vorgestempelt gewesen. Er hatte sie nur ausfüllen müssen. Danach war er in vier verschiedene Apotheken gegangen. Eine Packung enthielt fünfundzwanzig Kapseln, und er brauchte hundert. Er hatte sich im Sender genau erkundigt – bei einem Arzt, der wissenschaftlicher Berater des Gesundheitsmagazins SPRECHSTUNDE war. Eine Kapsel Nembutal enthielt hundert Milligramm Phenobarbitat. Die höchste noch vertretbare Tagesdosis waren achthundert Milligramm, also acht Kapseln. Zehn Gramm Phenobarbitat brachten einen Menschen garantiert um. Das waren hundert Kapseln. Ross spülte eine vierte Handvoll mit Whisky hinunter und aß danach die zweite Hälfte des Schinkenbrots. Draußen schrieen die Katzen.

Er war schon im Dezember so verzweifelt gewesen, daß für ihn feststand. Er mußte sich umbringen. Er mußte es einfach tun. Ein Mann kann nicht weiterleben, sagte er sich, wenn alles mit ihm zu Ende geht. Er hatte es schon im Dezember tun wollen, doch dann war sein ältester Freund gestorben. Im Berliner Martin-Luther-Krankenhaus. Er war sofort hingeflogen. Eine Nachtschwester hatte ihm die letzten Worte seines Freundes Fritz mitgeteilt. »Er hat gesagt: ›Zeit, daß ich abhau’.‹ Dann hat er die Augen zugemacht und war tot...«

Zeit, daß ich abhau’.

Die Worte hatten sich bis zur Besessenheit bei Daniel Ross festgesetzt. Zeit, daß er abhaute. Es war Zeit für ihn, höchste Zeit. Er mußte an den Satz denken, viele Male jeden Tag. Nachts träumte er von Fritz und hörte ihn die Worte sprechen. Er hörte ihn auch ein paar Mal am Tag sprechen, im Wachen. Ganz laut. So weit hatte ihn das verfluchte Nobilam schon gebracht. Wie weit ihn das verfluchte Nobilam sonst noch gebracht hatte, daran durfte er gar nicht denken.

Dann wollte er es gleich nach dem Begräbnis seines Freundes tun, noch in Berlin, aber da bekam er das Angebot einer unabhängigen Fernsehproduktionsgesellschaft. Es dauerte drei Wochen, und die Sache zerschlug sich. Anschließend sah es so aus, als würde es ihm mit verzweifelter Anstrengung gelingen, von dem Höllenzeug loszukommen, und er war drei Tage lang außer sich vor Seligkeit, bis ihn dann der Rückschlag traf. Was für ein Rückschlag! Mit scheußlichsten Entzugserscheinungen. Es gab keinen Weg mehr für ihn, keinen mehr, nein. Vergangenen Donnerstag hatte er schließlich einen neuen Rekord aufgestellt. Dreizehn Tabletten Nobilam waren nötig gewesen, um ihm halbwegs die Angst zu nehmen, um ihn einigermaßen ruhig werden zu lassen. Da war der Ekel vor sich selbst dann übergroß geworden, und er beschloß, am Samstag Schluß zu machen. Er hatte nie Selbstmitleid empfunden, wie das üblicherweise der Fall ist. Nein, kein Selbstmitleid. Nur Ekel, Wut und Abscheu. Das half ihm nun, half ihm enorm.

Wieder schluckte er eine Handvoll Kapseln, wieder trank er Whisky, wieder aß er. Ross fluchte, während er kaute. Scheißspiel mit diesen Milligrammkapseln. Es waren immer noch eine Menge da. Er mußte sie sich alle in den Rachen schmeißen. Natürlich erhöhte der Whisky die Wirkung. Na ja, verdammt, dachte er, darum trinkst du ihn ja, Kapselschmeißer. Du darfst kein Risiko eingehen. Schräg gegenüber sind die Universitätskliniken. Und fünfhundert Meter entfernt, in der Heinrich-Hoffmann-Straße, ist die Psychiatrie. Kein Risiko also. Und kein Fluchen, kein Theater, ja? Marilyn hat es auch geschafft mit Schmeißen. Oder, wie glaubst du, ist die abgehauen? Also weiter. Hurtig, hurtig. Er schluckte eben den letzten Bissen des zweiten Brotes, als das Telefon läutete. Bereits benommen, nahm er mechanisch ab, bereits so benommen, daß er nicht über die Störung verärgert war.