Mike wollte widersprechen, aber Trautman brachte ihn mit einem schnellen Blick zum Schweigen und fragte, an Jacques gewandt: »Wozu?« »Weil sich meine Frau und die ändern Mitglieder der Expedition in größter Gefahr befinden«, antwortete Delamere. »Was glauben Sie denn, warum wir das Risiko auf uns genommen haben, noch einmal hierher zu kommen? Wir brauchten das Funkgerät um Hilfe zu rufen.«
»Wir werden Ihnen helfen«, sagte Trautman. Jacques betrachtete ihn kritisch. »Werden Sie? Na, dann hoffe ich, dass Sie genügend Waffen und Munition an Bord haben. Und mindestens zweihundert Soldaten.«
»Was soll das heißen?«, fragte Mike alarmiert. »Wie ich bereits sagte: Die Pahuma haben die anderen gefangen genommen. Sie wollen sie ihren heidnischen Göttern opfern.«
»Wann?«, fragte Juan.
»Beim nächsten Vollmond«, antwortete Jacques. »In zwei Tagen.«
»In zwei Tagen?!« Trautman hatte Mühe, sich seinen Schrecken nicht zu deutlich anmerken zu lassen. »Ja«, bestätigte Jacques. »Warum fragen Sie?« »Weil Sie sich irren, Jacques«, antwortete Trautman ernst. »Sie waren mehr als vierundzwanzig Stunden bewusstlos. Sie haben keine zwei Tage mehr. Vollmond ist in der kommenden Nacht.«
Juan rollte die Seekarte zusammen, trug sie zurück zum Kartenregal und wählte umständlich eine andere, sorgsam zusammengerollte Karte. Er breitete sie auf dem Tisch aus, beschwerte die Ecken, damit sie sich nicht von selbst wieder zusammenrollte, und studierte konzentriert denselben Bereich, den er im Laufe der vergangenen beiden Stunden schon auf einem halben Dutzend anderer Karten begutachtet hatte.
Mit demselben Ergebnis. Er schüttelte den Kopf und sagte: »Nichts. Es gibt keine Insel, die Hathi heißt.« »Vielleicht nicht auf diesen Karten«, sagte Singh. »Sie sind zum Teil schon ziemlich alt.« »Außerdem könnte es gut sein, dass Delamere uns den Namen gesagt hat, mit dem die Eingeborenen ihre Insel bezeichnen«, fügte Trautman hinzu. »Er muss nicht unbedingt mit dem übereinstimmen, der auf dieser Karte steht.« Er seufzte. »Wir werden es gleich wissen.«
»Sie wollen ihn wirklich hierher bringen?«, fragte Ben.
»Hast du eine bessere Idee?«, erwiderte Trautman. Und Chris fügte hinzu:
»Wir können ihn schließlich nicht ewig in Serenas Kabine einsperren, oder?«
»Nein«, gestand Ben. Es hörte sich ziemlich widerwillig an. »Ich halte es trotzdem nicht für eine gute Idee. Wir haben schon viel zu viele schlechte Erfahrungen gemacht.«
Für einen Moment breitete sich ein sehr unangenehmes Schweigen im Kommandoraum der NAUTILUS aus. Mike hätte Ben -ebenso wie alle anderen -liebend gerne widersprochen, aber es wäre nicht die Wahrheit gewesen. Gerade die Ereignisse der letzten Wochen hatten ihnen auf schreckliche Weise klargemacht, wie gefährlich es war, Fremden das Geheimnis der NAUTILUS zu enthüllen. Die Welt war einfach noch nicht reif für ein Schiff wie die NAUTILUS. Das Tauchboot war mehr als zehntausend Jahre alt und stammte aus dem sagenumwobenen Atlantis und es war der Technik der Menschen um Jahrhunderte voraus. Sie hatten es niemals ausprobiert und Mike betete zu Gott, dass sie niemals in die Situation kommen würden, es zu müssen -aber Mike war ziemlich sicher, dass die NAUTILUS allein in der Lage war, es mit einer ganzen Flotte der modernsten Kriegsschiffe aufzunehmen; vor allem nach den Umbauten, die Tarras und seine Techniker daran vorgenommen hatten. Die Bewaffnung der NAUTILUS war nichts, was Mike und die anderen -Ben vielleicht einmal ausgenommen -wirklichinteressierte. Aber sie machte das Unterseeboot zu etwas, für dessen Besitz jeder Staat auf dieser Welt ohne zu zögern einen Krieg angefangen hätte. Sie mussten unendlich vorsichtig sein.
»Wir haben keine Wahl«, sagte Trautman leise. »Es stehen zehn Menschenleben auf dem Spiel. Vielleicht sogar noch mehr.«
Mike sah erschrocken auf, doch bevor er Trautman fragen konnte, wie er diese letzte Bemerkung gemeint hatte, fragte Ben: »Warum geben wir ihm nicht einfach das Funkgerät, um das er gebeten hat, und lassen ihn Hilfe rufen?«
»Du hast Delamere doch gehört, oder?«, fragte Trautman. »Er will Soldaten anfordern. Wahrscheinlich ein Kriegsschiff. Ganz offensichtlich plant er seine Freunde mit Gewalt zu befreien. Möchtest du schuld an einem Gemetzel unter Insulanern sein?« »He, Moment!«, protestierte Ben. »Wieso bin ich schuld an irgendetwas, nur weil ich mich nicht einmischen will?«
»Wir haben uns bereits eingemischt, einfach indem wirhiersind.« Trautman beendete das Thema mit einer eindeutigen, energischen Geste. »Außerdem haben wir diese Wahl gar nicht. Wir sind ziemlich weit von der nächsten größeren Ansiedlung der so genanntenZivilisationentfernt. Es würde zwei Tage dauern, bis irgendein anderes Schiff hier ist.« Er nickte Chris zu. »Würdest du Delamere holen?« Chris stand wortlos auf und ging und auch Astaroth erhob sich und folgte dem Jungen. Ben blickte ihm stirnrunzelnd nach. Er schwieg, aber Mike fühlte sich bemüßigt zu sagen:
»Jetzt reg dich wieder ab. Astaroth würde uns sofort warnen, wenn irgendetwas nicht stimmt.« »So wie das letzte Mal?«, maulte Ben. »Es reicht«, sagte Trautman scharf. Ben hatte zwar Recht, aber die Situation war trotzdem nicht zu vergleichen. Diesmal hatten sie es nicht mit einem leibhaftigen Magier zu tun, der die Fähigkeit hatte, praktisch jede beliebige Gestalt anzunehmen und selbst seine Gedanken vor Astaroth zu verbergen. Das unangenehme Schweigen hielt an, bis sie draußen auf dem Gang Schritte hörten und Chris mit Delamere und Astaroth zurückkam, begleitet von Serena. Alle blickten dem belgischen Forscher aufmerksam entgegen, aber Delamere schien sie gar nicht wahrzunehmen. Er trug den linken Arm in einer Schlinge und hatte einen frischen weißen Verband um die Stirn. Seine verbrannten Kleider waren verschwunden und er trug nun eine der normalen Borduniformen der NAUTILUS. Und einen so vollkommen fassungslosen Gesichtsausdruck, wie Mike ihn selten gesehen hatte. Er blieb einen Moment lang unter der Tür des Salons stehen, sah sich aus weit aufgerissenen Augen um und ging dann steifbeinig auf das große Aussichtsfenster zu. Die NAUTILUS lag ziemlich tief, sodass die unteren dreißig Zentimeter der Scheibe unter der Wasseroberfläche lagen. Endlose Sekunden starrte Delamere aufs Meer hinaus, dann drehte er sich langsam um und ließ seinen Blick ein zweites Mal durch den Raum schweifen. »Wo ... wo bin ich?«, murmelte er. »Das ist ... ein Unterseeboot, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Trautman. »Allerdings ein etwas ... außergewöhnliches.«
»Außergewöhnlich?« Jacques' Stimme klang schrill.Er weiß es schon,wisperte Astaroths Stimme in
Mikes Gedanken.Er weigert sich nur noch es zu glauben. Der arme Kerl fällt gleich in Ohnmacht.
»Es ist die NAUTILUS«, sagte Mike. Als Ben und Trautman ihn erschrocken anblickten, deutete er mit einer fast unmerklichen Geste auf Astaroth. Beide nickten ebenso unmerklich. Sie hatten verstanden. »Die NAUTILUS.« Jacques versuchte zu lachen, aber es misslang. »Du ... du willst mich auf den Arm nehmen, nicht? Ich meine, es ... es ist nichtdieNAUTILUS.«
»Es ist das Schiff meines Vaters«, sagte Mike ruhig. »Kapitän Nemo.«
Jacques starrte ihn an. Er versuchte etwas zu sagen, aber seine Stimme versagte kläglich. »Ich kann mir vorstellen, was Sie jetzt fühlen«, sagte Trautman sanft. »Aber bitte glauben Sie nicht alles, was Sie über dieses Schiff und seinen Kapitän gehört haben. Nemo war kein Verbrecher. Und das hier ist kein Piratenschiff.«
»Ich ... ich habe vor allem gehört, dass ... dass die NAUTILUS gesunken ist«, stammelte der Belgier. »Das ist es, was die ganze Welt glauben sollte«, antwortete Trautman. »Niemand darf erfahren, dass die NAUTILUS noch existiert. Wenn Sie länger an Bord bleiben sollten, werden Sie verstehen, warum das so ist.«