Die Palisadenmauer war kein Halbkreis mehr; sie war heute geschlossen worden und hatte nun sogar ein primitives Tor, das an Seilscharnieren hing.
Die fünf Männer, die auf mich zukamen, waren bewaffnet. In ihrer Mitte entdeckte ich Sarus.
Während des Tages waren mehrere Gruppen in den Wald gekommen und hatten Bäume gefällt, zurechtgeschnitten und zum Strand gezerrt. Dann hatten die Männer damit begonnen, die Stämme mit Seilen und Ketten zusammenzubinden. Offensichtlich wurde Sarus ungeduldig. Wahrscheinlich hielt er die Rhoda und die Tesephone für überfällig. Während der Arbeiten an den Flößen hatten Marlenus und die anderen Gefangenen eine Art Schutzwehr zum Wald hin bilden müssen.
Ich hatte also kaum noch Gelegenheit, meinen Langbogen einzusetzen – gegen das Palisadenlager ebensowenig wie gegen die Floßbauer. Ich hätte einige Holzfäller im Wald töten können, hätte damit jedoch wenig erreicht. Ich hätte den Tyrern damit nur verraten, daß sie wieder oder immer noch in Gefahr schwebten – etwas, das ich ihnen noch nicht zu Bewußtsein bringen wollte. Außerdem hätten sie sich dann vielleicht auch im Wald durch Sklaven abgeschirmt oder ausgewählte Stämme von der Seeseite der Palisade verwendet. Das Meer und der offene Strand boten den Männern den besten Schutz, denn ich hätte mich am Strand zeigen müssen, wenn ich sicher zielen wollte. Aber ein Angriff kam nicht mehr in Frage; es hatte ja in meiner Absicht gelegen, daß Sarus das Meer erreichte.
Ich war jedoch davon ausgegangen, daß er dort sein Lager aufschlug und auf das vorgesehene Rendezvous mit der Rhoda und der Tesephone wartete. Ich hatte nicht erwartet, daß er das Zusammentreffen mit den Schiffen vielleicht gar nicht abwarten wollte.
Offenbar hatte ich mich geirrt. Vielleicht war mir das Ausmaß des Schreckens nicht bewußt geworden, den ich den Tyrern eingejagt hatte. Vielleicht war Sarus auch durch die Flucht Caras und Tinas nervös gemacht worden und hatte sich um so schneller zum Handeln entschlossen. Womöglich hatte ihm inzwischen auch Mira verraten, daß ihm Hunderte von Panthermädchen auf den Fersen waren – ohne ihm anzuvertrauen, wie sie zu diesen Informationen gekommen war, denn das hätte sie belastet. Aber sie mochte ihm verraten, was ihr bei ihrem geheimen Verhör eingeredet worden war – daß es eine große Bande Panthermädchen auf die Tyrer abgesehen hatte. Vielleicht befürchtete Sarus nun, daß sein Lager gestürmt werden könnte.
Aus welchem Grunde auch immer, Sarus schien entschlossen zu sein, seine Flöße so bald wie möglich – wahrscheinlich schon morgen früh – nach Süden zu führen. Es wäre gefährlich und vielleicht sinnlos, ihnen in der Deckung des Waldes zu folgen, denn dabei mußte ich zahlreiche Austauschstellen passieren. Außerdem mochten die Tyrer ihre Gefangenen auf der Landseite der Flöße unterbringen, so daß ich sie nicht einmal beschießen konnte. Schließlich bestand die Gefahr, daß ich die ganze Gruppe aus den Augen verlor. Das war ärgerlich. Wir hatten das Rendezvous mit der Rhoda und der Tesephone um wenige Stunden verpaßt. Nun mußte ich handeln.
»Ich bin Sarus«, sagte der hagere, große Mann.
Eine Fackel wurde in die Höhe gehoben, damit man mein Gesicht besser erkennen konnte.
Ich hatte mein Schwert und ein kurzes Sleenmesser bei mir.
»Er ist allein«, sagte einer der Männer, die den Strand hinter mir erkundet hatten.
»Paßt weiter auf«, ordnete Sarus an. Er war unrasiert, wirkte jedoch entschlossen und kraftvoll. Eine echte Führerpersönlichkeit.
»Du trägst die Farbe von Tyros«, bemerkte er.
»Aber ich bin nicht aus Tyros.«
»Das glaube ich auch.«
»Was suchst du hier?« fragte einer der Tyrer und trat einen Schritt vor.
Ich wandte mich an Sarus. »Ich bin dein Feind. Ich möchte mit dir verhandeln.«
»Im Norden ist der Strand klar«, meldete ein anderer Mann.
»Ich habe niemanden im Wald gefunden«, sagte ein dritter.
Die Tyrer sahen sich an.
»Verhandeln wir?« fragte ich.
Sarus sah mich an. »Kehren wir ins Lager zurück.«
»Ausgezeichnet«, bemerkte ich.
Sarus wandte sich an seine Männer. »Geht ins Lager zurück!« rief er. »Wir passen auf«, sagte er zu mir. »Wir lassen uns nicht so leicht überraschen.«
»Ausgezeichnet«, sagte ich noch einmal.
Ich ging ihm voran. Ehe ich durch das Tor trat, hörte ich Sarus zu zwei Männern sagen: »Das Signalfeuer soll weiterbrennen. Schürt es tüchtig.«
Im Lager sah ich mich um. »Keine schlechte Befestigung«, stellte ich fest. »In der kurzen Zeit habt ihr viel geschafft.«
Das Tor schloß sich hinter mir.
»Kommt mir nicht zu nahe«, sagte ich zu zwei Tyrern, die daraufhin sofort einige Schritte zurückwichen.
Die Aufmerksamkeit der Tyrer konzentrierte sich ganz auf mich. Ich blickte von einem Gesicht zum anderen, wobei ich mir besonders die Männer ansah. Einige waren besonders wachsam und kampfbereit und schienen ihre Waffen gar nicht loszulassen. Ich merkte mir die Klingen, deren Griffe besonders abgenutzt wirkten. Zwei Mann hatten Armbrüste bei sich, und ich prägte mir ihre Gesichter ein.
Ich stand in der Mitte eines Kreises. Auch Huras Mädchen mischten sich unter die Tyrer. Die Frauen, die mich vor langer Zeit in Marlenus’ Lager gesehen hatten, erkannten mich nicht wieder. Mira jedoch wußte, wer ich war. Sie stand abseits und sah mich mit großen Augen an. War ich ihretwegen hier? Sie schien Todesängste auszustehen.
»Ich glaube, ich kenne ihn«, sagte Hura, die Anführerin der Panthermädchen. Sie stand mit erhobenem Kopf vor mir.
Mit schneller Bewegung zog ich sie heran, und sie stieß einen Angstschrei aus. Ich hielt sie fest, daß sie sich nicht bewegen konnte, und preßte meine Lippen auf die ihren. Es war ein unverschämter Kuß, der Kuß zwischen Herr und Sklavin. Huras Mädchen stimmten ein Wutgeschrei an. Die Tyrer glotzten verblüfft.
»Tötet ihn!« kreischte Hura, der das Haar ins Gesicht hing. Ich hatte sie nach dem Kuß verächtlich zu Boden gestoßen.
»Sei still, Frau«, sagte Sarus.
Wütend hielten sich die Panthermädchen zurück. Ich hatte das Gefühl, daß die stolzen Panthermädchen bei den Tyrern nicht gerade beliebt waren. Zumal die Mädchen Angst vor den Männern zu haben schienen. Seltsame Verbündete, die Männer aus Tyros und die Frauen aus dem Walde.
»Ich verlange Rache!« brüllte Hura außer sich vor Wut.
»Sei still!« sagte Sarus schneidend, »oder wir stecken euch alle in Ketten.«
Die Mädchen hielten den Atem an und schwiegen. Die Tyrer konnten sie jederzeit versklaven, womit sie nicht besser dran waren als die armen Mädchen, die an der Palisadenmauer des Lagers lagen. Ich warf einen Blick zu den Gefangenen hinüber und merkte mir die Stelle, wo Sheera und Verna gefesselt lagen.
Hinter mir öffnete sich das Tor, und die beiden Männer, die sich um das Signalfeuer gekümmert hatten, wurden eingelassen. Nun schienen alle Männer Sarus’ im Lager zu sein.
Innen um die Palisadenmauer verlief kein Wachsteg.
»Ich höre«, sagte Sarus und verschränkte die Arme. »Du willst mit mir sprechen?«
»Richtig«, sagte ich.
Ich musterte den Anführer der Tyrer. Er war bestimmt schnell mit dem Schwert. Er war intelligent und rücksichtslos. Seine Sprache verriet eine Herkunft aus niedriger Kaste. Er war zweifellos durch alle Ränge gelaufen, ehe er sich seine hervorragende Stellung erobert hatte – und das war in dem aristokratischen System von Tyros ungewöhnlich. Familienbande waren wichtig auf dieser Felseninsel, wie auch auf Cos. In den Insel-Ubaraten, die eine relativ stabile Bevölkerungszahl hatten, konzentrieren sich Macht und Reichtum auf wenige erfolgreiche Familien, die sich mit der Zeit zu einer Art Aristokratie aufgeschwungen haben.
Sarus verdankte seine Position und seinen Einfluß sicher nicht der Familie, der er entstammte. Er hatte sich hochgekämpft, und das machte ihn gefährlich.
Er erinnerte mich ein wenig an Chenbar aus Tyros, seinen Ubar, der ebenfalls von niederer Herkunft war. Vielleicht war Sarus auf Fürsprache Chenbars befördert worden. Doch soweit ich wußte, befand sich Chenbar zurzeit angekettet in einem Verlies in Port Kar. In Tyros hatte es um die Thronfolge manchen Streit gegeben. Fünf Familien hatten mit ihren Angehörigen um das Medaillon gekämpft. Ich wußte jedoch nicht, wie die Dinge zur Zeit standen.