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Sie hörte die Glocke schlagen, als sie durchkam. Es klang dünn und blechern, wie die Klänge des Glockenspiels vom Tonband, die sie für Weihnachten spielten. Das Laboratorium sollte schalldicht sein, aber jedesmal wenn jemand von außen die Tür zum Vorzimmer öffnete, hatte sie die leisen, geisterhaften Töne des Glockenspiels hören können.
Dr. Ahrens war zuerst hereingekommen, dann Mr. Dunworthy, und beide Male war Kivrin überzeugt gewesen, daß sie gekommen seien, um ihr zu sagen, daß sie nun doch nicht gehen könne. Schon im Krankenhaus, als Kivrins antivirale Impfung zu einer riesigen roten Schwellung an der Unterseite ihres Armes geführt hatte, hätte Dr. Ahrens das Projekt beinahe abgesagt. »Sie werden nirgendwohin gehen, solange die Schwellung nicht zurückgeht«, hatte Dr. Ahrens gesagt und ihr die Entlassung aus dem Krankenhaus verweigert. Der Arm juckte noch immer, aber das würde sie Dr. Ahrens nicht sagen, denn die könnte es Mr. Dunworthy weitererzählen, der von einem Entsetzen ins andere gefallen war, seit er erfahren hatte, daß sie gehen würde.
Schon vor zwei Jahren sagte ich ihm, daß ich gehen wollte, dachte Kivrin. Vor zwei Jahren, und als sie ihm gestern ihre Kleider gezeigt hatte, hatte er noch immer versucht, es ihr auszureden.
»Mir gefällt die Art und Weise nicht, wie diese Mediävisten das Absetzen handhaben«, hatte er gesagt. »Und selbst wenn sie die gebotenen Sicherheitsvorkehrungen getroffen hätten, hat eine junge Frau allein im Mittelalter nichts zu suchen.«
»Es ist alles genau ausgearbeitet«, hatte sie ihm gesagt. »Ich bin Isabel de Beauvrier, die Tochter von Gilbert de Beauvrier, eines Edelmannes, der von 1276 bis 1332 in East Riding lebte.«
»Und was suchte die Tochter eines Edelmannes aus Yorkshire allein auf der Landstraße von Oxford nach Bath?«
»Ich war nicht allein. Ich war in Begleitung meiner Diener, unterwegs nach Evesham, um meinen Bruder abzuholen, der dort krank im Kloster liegt. Aber wir wurden von Räubern überfallen.«
»So so, von Räubern«, sagte er und zwinkerte ihr durch seine Brille zu.
»Das war Ihre Idee. Sie sagten, daß junge Frauen im Mittelalter nicht allein reisten, daß sie immer in Begleitung waren. Also war ich in Begleitung, aber meine Diener liefen davon, als wir angegriffen wurden, und die Wegelagerer nahmen die Pferde und all meine Sachen. Mr. Gilchrist findet die Geschichte überzeugend. Er sagte, die Wahrscheinlichkeit, daß…«
»Die Geschichte ist einleuchtend, weil das Mittelalter voll von Dieben und Halsabschneidern war.«
»Ich weiß«, sagte sie ungeduldig, »und voll von Bazillenträgern und Raubrittern und anderen gefährlichen Typen. Gab es im Mittelalter überhaupt keine netten Leute?«
»Die waren alle damit beschäftigt, Hexen auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen.«
Sie hatte es zweckmäßig gefunden, das Thema zu wechseln. »Ich bin gekommen, Ihnen meine Kostümierung zu zeigen«, hatte sie gesagt und sich langsam um ihre Achse gedreht, daß er ihren blauen Kittel und den mit weißem Kaninchenfell gefütterten Umhang sehen konnte. »Mein Haar wird beim Absetzen offen sein.«
»Es hat keinen Sinn, daß Sie im Mittelalter Weiß tragen«, hatte er gesagt. »Es wird bloß schmutzig.«
An diesem Morgen war es auch nicht besser mit ihm gewesen. Wie ein werdender Vater war er in dem schmalen Beobachtungsraum hinter der Trennscheibe hin und her gelaufen. Sie hatte sich den ganzen Morgen gesorgt, daß er plötzlich versuchen würde, das ganze Vorhaben doch noch zu Fall zu bringen.
Es hatte Verzögerungen und wieder Verzögerungen gegeben. Mr. Gilchrist mußte ihr noch einmal erklären, was für eine Bewandtnis es mit dem Doomsday Book habe, als ob sie eine Anfängerin wäre. Keiner von ihnen hatte Vertrauen in sie, außer vielleicht Badri, und selbst der war zum Aus-der-Haut-fahren vorsichtig gewesen, hatte die Netzfläche immer wieder ausgemessen und einmal eine ganze Serie von Koordinaten gelöscht und neu eingetragen.
Sie hatte gedacht, es würde nie der Augenblick kommen, da sie sich endlich in Position begeben würde, und als es dann so weit gewesen war, hatte sie es noch schlimmer gefunden, mit geschlossenen Augen dazuliegen und sich zu fragen, was vorging. Latimer sagte Gilchrist, er sei besorgt wegen der Schreibweise des Namens, den sie für sie gewählt hatten, als ob damals jemand hätte lesen oder schreiben können. Montoya kam und stand über ihr und erklärte ihr, daß sie Skendgate anhand der Fresken in der Dorfkirche identifizieren könne; sie zeigten das Jüngste Gericht mit dem Höllensturz. Das hatte sie Kivrin vorher schon mindestens ein Dutzend Male erzählt.
Jemand, sie glaubte Badri, weil er der einzige war, der keine Anweisungen für sie hatte, beugte sich über sie und bewegte ihren Arm ein wenig zum Körper und zupfte ihre Röcke zurecht. Der Boden war hart, und etwas bohrte sich unter den Rippen in ihre Seite. Mr. Gilchrist sagte etwas, und wieder hörte man von draußen das Glockenspiel.
Bitte, dachte Kivrin, bitte. Sie fragte sich, ob Dr. Ahrens plötzlich entschieden habe, daß sie eine weitere Impfung benötige, oder ob Dunworthy endlich Basingame erreicht und überredet hatte, die Einstufung wieder auf zehn zu ändern.
Der Betreffende — wer es auch war — hielt die Tür offen; sie konnte wieder das Glockenspiel hören, obwohl die Melodie nicht zu erkennen war. Es war auch keine Melodie, vielmehr ein langsames, gleichmäßiges Läuten, das kurz verstummte und dann wieder anfing, und Kivrin dachte: Ich bin durch!
Sie lag auf der linken Seite, die Beine unbeholfen in die Röcke verheddert, als wäre sie von den Räubern niedergeschlagen worden, den Arm halb über dem Gesicht, um die Schläge abzuwehren, von denen einer ihre Schläfe getroffen hatte, wo das Blut in einem dünnen Rinnsal über ihre Gesichtshälfte geronnen war. Die Haltung ihres Armes ermöglichte ihr, unbemerkt die Augen zu öffnen, aber das wagte sie noch nicht. Sie lag ganz still und lauschte.
Bis auf die fernen Glockentöne war nichts zu hören. Wenn sie am Rand einer Landstraße des 14. Jahrhunderts lag, sollten wenigstens Vogelstimmen zu hören sein. Aber vielleicht hatte ihr plötzliches Erscheinen oder der Lichthof des Netzes alle Vögel aus der näheren Umgebung verscheucht. Immerhin hinterließ der Lichthof mehrere Minuten lang schimmernde frostähnliche Partikel in der Luft.
Nach einer langen Minute hörte sie einen Vogel zwitschern, und dann noch einen. Etwas raschelte in ihrer Nähe, hielt inne und raschelte wieder. Ein Eichhörnchen oder eine Waldmaus des 14. Jahrhunderts. Jetzt vernahm sie auch ein dünneres Rascheln, das wahrscheinlich vom Wind in den Zweigen der Bäume herrührte, obwohl sie keine Brise im Gesicht fühlte.
Sie fragte sich, warum die ferne Kirchenglocke so anhaltend läutete. Vielleicht zur Vesper. Oder es war das Mittagläuten. Badri hatte ihr gesagt, er habe keine Ahnung, wieviel Verschiebung es geben würde. Er hatte das Absetzen verschieben und eine Serie von Überprüfungen der Parameter machen wollen, aber Mr. Gilchrist hatte gesagt, die Wahrscheinlichkeitsrechnung habe eine maximale Verschiebung von 6,4 Stunden vorausgesagt.
Sie wußte nicht, zu welcher Zeit sie durchgekommen war. Es war Viertel vor elf gewesen, als sie ins Laboratorium gekommen war — sie hatte Mrs. Montoya nach der Uhrzeit gefragt -, aber sie konnte nicht sagen, wie lang es danach gedauert hatte. Ihr war es wie Stunden vorgekommen.
Das Absetzen war für die Mittagszeit geplant gewesen. Wenn sie rechtzeitig durchgekommen war und die Wahrscheinlichkeitsrechnung stimmte, würde es sechs Uhr nachmittags sein, also zu spät für die Vesper. Und warum wurde so anhaltend geläutet?
Es konnte zur Messe läuten, oder für ein Begräbnis oder eine Hochzeit. Soviel sie wußte, hatten im Mittelalter beinahe ständig Glocken geläutet: um vor Feinden oder Feuersgefahr zu warnen, um einem Kind, das sich verlaufen hatte, den Weg zurück zum Dorf zu weisen, sogar um Unwetter abzuwehren. Diese Glocke konnte ohne besonderen Grund läuten.