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»Sie hätte nicht sollen«, urteilte Agnes. »Ich würde es nicht tun. Der Wald ist finster.«

»Der Wald ist sehr finster, und voller Geräusche, die einen das Fürchten lehren.«

»Wölfe«, sagte Agnes, und Kivrin merkte, wie sie auf der anderen Seite näherrückte, um Kivrin so nahe zu sein wie sie konnte. Kivrin konnte sie vor sich sehen, gegen die Tischplatte geschmiegt, die Knie angezogen, den kleinen Wagen an sich gedrückt.

»Das Mädchen sagte sich: ›Hier gefällt es mir nicht‹, und kehrte um. Aber es konnte den Weg nicht sehen, so dunkel war es, und plötzlich sprang etwas auf sie zu!«

»Ein Wolf«, hauchte Agnes.

»Nein«, sagte Kivrin. »Es war ein Bär. Und der Bär sagte: ›Was tust du in meinem Wald?‹«

»Das Mädchen hatte Angst«, sagte Agnes mit kleiner, ängstlicher Stimme.

»Ja. ›Oh, bitte friß mich nicht, Bär‹, sagte das Mädchen. ›Ich habe mich verlaufen und kann meinen Heimweg nicht finden.‹ Nun war der Bär aber ein freundlicher Bär, obwohl er bösartig aussah, und sagte: ›Ich werde dir helfen, den Weg aus dem Wald zu finden‹, und das Mädchen sagte: ›Wie? Es ist so dunkel.‹ ›Wir werden die Eule fragen‹, sagte der Bär. ›Sie kann in der Dunkelheit sehen.‹«

Sie erzählte weiter, erfand im Sprechen ihre Geschichte und fühlte sich seltsam getröstet. Agnes hörte auf, sie zu unterbrechen, und nach einer Weile stand Kivrin mitten in ihrer Erzählung auf und blickte über die Barrikade. »›Kennst du den Weg aus dem Wald?‹ fragte der Bär die Krähe. ›Ja‹, sagte die Krähe.«

Agnes schlief an die Tischplatte gelehnt, den Umhang um sich gebreitet und den Wagen an sich gedrückt.

Sie sollte zugedeckt sein, dachte Kivrin, wagte es aber nicht. Alles Bettzeug, das sie aus der Krankenstube heruntergeschafft hatten, war voll von Pesterregern. Sie hob den Blick zu Frau Imeyne, die mit abgewandtem Gesicht im Winkel betete. »Frau Imeyne«, rief sie mit gedämpfter Stimme, aber die alte Frau gab kein Zeichen, daß sie gehört hatte.

Kivrin legte Holz nach und setzte sich, Kopf und Rücken an die Tischplatte gelehnt. »›Ich kenne den Weg aus dem Wald‹, sagte die Krähe, ›und ich werde ihn dir zeigen‹«, sagte Kivrin, »aber sie flog so schnell über die Baumwipfel davon, daß sie ihr nicht folgen konnten.«

Sie mußte eingeschlafen sein, denn das Feuer war heruntergebrannt, als sie die Augen aufschlug, und ihr Nacken schmerzte. Rosemund und Agnes schliefen noch, aber der Sekretär war wach. Er gurgelte unverständliche Worte. Der pelzige weiße Belag überzog inzwischen seine ganze Zunge, und sein Atem war so widerwärtig, daß Kivrin den Kopf zur Seite wenden mußte. Seine Pestbeule war wieder aufgegangen und entließ eine dickflüssige dunkle Masse, die nach verfaulendem Fleisch stank. Kivrin legte einen neuen Verband an und mußte dabei die Zähne zusammenbeißen, um nicht zu würgen. Den alten warf sie ins Feuer, dann ging sie hinaus und wusch ihre Hände am Trog, goß sich eiskaltes Wasser aus dem Eimer erst über eine Hand und dann über die andere, sog mit tiefen Zügen die kalte, reine Luft ein.

Pater Roche kam in den Hof. »Ulric, Hals Sohn«, sagte er, als sie zusammen ins Haus gingen, »und einer der Söhne des Verwalters, der Älteste, Walthef.« Er ließ sich auf die der Tür nächsten Bank fallen.

»Ihr seid erschöpft«, sagte Kivrin. »Ihr solltet Euch niederlegen und ausruhen.«

Auf der anderen Seite des Herdfeuers stand Imeyne unbeholfen auf, als wären ihr die Beine eingeschlafen, und kam zu ihnen herüber.

»Ich kann nicht bleiben. Ich bin gekommen, um ein Messer zum Schneiden der Weidenzweige zu holen«, sagte Pater Roche, aber er blieb beim Feuer sitzen und starrte stumpf hinein.

»So ruht wenigstens eine kleine Weile aus«, sagte Kivrin. »Ich werde Euch etwas Bier bringen.« Sie stand auf und wandte sich zum Gehen.

»Ihr habt diese Krankheit gebracht«, sagte Frau Imeyne.

Kivrin hielt inne. Die alte Frau stand mitten in der Diele und durchbohrte Pater Roche mit ihrem feindseligen Blick. Sie hielt mit beiden Händen das Stundenbuch an die Brust, und ihr Rosenkranz baumelte von den knochigen Fingern. »Eure Sünden sind es, die dieses Übel hierhergebracht haben.«

Sie wandte sich zu Kivrin. »Am Tag des heiligen Eusebius sagte er die Litanei für den St. Martinstag. Sein Chorhemd ist schmutzig.« Es hörte sich an, als beklagte sie sich bei Sir Bloets Schwester, und ihre Finger zupften nervös am Rosenkranz, zählten seine Sünden an den Perlen auf. »Letzten Mittwoch ließ er die Kirchentür nach der Vesper offen.«

Kivrin mußte keine Psychologin sein, um zu sehen, daß die Frau sich zu rechtfertigen und ihre eigene Schuld abzuwälzen suchte. Sie hatte dem Bischof geschrieben und um einen neuen Kaplan gebeten, sie hatte ihm verraten, wo sie waren. Nun wurde ihr das Wissen, daß sie geholfen hatte, die Pest einzuschleppen, unerträglich, aber sie konnte kein Mitleid aufbringen. Gleichwohl hatte sie kein Recht, Pater Roche verantwortlich zu machen, der alles in seinen Kräften Stehende getan hatte, während sie nur in einem Winkel gekniet und gebetet hatte.

»Gott hat diese Seuche nicht als Strafe gesandt«, erwiderte sie kalt. »Es ist eine Krankheit.«

»Er vergaß das Confiteor«, sagte Imeyne, aber sie drehte um und humpelte zurück zu ihrem Winkel, wo sie sich auf die Knie niederließ. »Er stellte die Altarkerzen auf die Chorschranke.«

Kivrin kam zurück zu Pater Roche. »Niemand ist schuldig«, sagte sie.

Er starrte erschöpft ins Feuer. »Wenn Gott uns straft«, sagte er, »muß es für eine furchtbare Sünde sein.«

»Keine Sünde«, widersprach sie. »Es ist keine Strafe.«

»Dominus«, rief der Sekretär. Er versuchte sich aufzustützen und stieß ein angestrengtes, schütterndes Husten aus, das sich anhörte, als wollte es ihm die Brust aufsprengen, aber er förderte nichts zutage. Die harten Stöße seines Hustens weckten Rosemund, und sie begann zu wimmern. Es mochte keine Strafe sein, dachte Kivrin, aber es sah ganz gewiß wie eine aus.

Der Schlaf hatte Rosemund nicht gekräftigt. Ihr Fieber war nicht zurückgegangen, und ihre Augen sahen eingesunken aus. Bei der geringsten Bewegung zuckte sie wie unter einem Peitschenhieb zusammen.

Es bringt sie um, dachte Kivrin. Ich muß etwas tun.

Als Maisry mit geschnittenen Weidenzweigen hereinkam und sie mit dem Messer neben Pater Roche niederlegte, stieg Kivrin zur Schlafkammer hinauf und brachte Imeynes Arzneikasten herunter. Imeyne beobachtete sie mit lautlosen Lippenbewegungen aus den Augenwinkeln, doch als Kivrin den Kasten vor sie hinstellte und fragte, was in den Leinenbeuteln sei, hob sie die gefalteten Hände vors Gesicht und schloß die Augen.

Kivrin erkannte einige wenige von ihnen. Dr. Ahrens hatte sie mit Heilkräutern vertraut gemacht, aber hier waren keine frischen Blätter oder Blüten; alles war getrocknet und zerkleinert, und sie konnte sich nur auf ihren Geruchssinn verlassen. Sie identifizierte Schwarzwurz, Lungenkraut und Wegwarte. In einem kleinen Lederbeutel war pulverisiertes Quecksilbersulfid, das kein vernünftiger Mensch einem anderen geben würde, sowie ein Päckchen gepreßter Blüten und Blätter vom Fingerhut, der beinahe genauso schlimm war.

Sie ging ins Küchenhaus, kochte Wasser und tat von jedem Kraut, das sie kannte, etwas hinein und ließ die Mischung ziehen. Der Duft war wundervoll, wie ein Hauch des Sommers, und es schmeckte nicht schlechter als der Tee aus Weidenrinde, aber es half auch nicht. Als es Abend wurde, hustete der Sekretär unausgesetzt, und auf Rosemunds Bauch und an den Armen begannen rote Flecken zu erscheinen. Ihre Pestbeule hatte die Größe eines Eies und war ebenso hart. Als Kivrin sie berührte, schrie Rosemund vor Schmerz.

Mittelalterliche Pestärzte hatten die Pestbeulen mit Umschlägen und Zugpflastern behandelt oder sie aufgeschnitten. Aber sie hatten die Kranken auch zur Ader gelassen und mit Arsenik behandelt, dachte sie, obwohl es dem Sekretär nach dem Aufplatzen seiner Pestbeulen besser zu gehen schien; jedenfalls lebte er noch. Aber das Aufschneiden der Beule mochte zur Verbreitung der Infektion beitragen oder, schlimmer noch, die Erreger in den Blutkreislauf bringen und zur Sepsis führen.