Aber er blutete kaum, und die Farbe kehrte bereits in seine Wangen zurück, bevor Kivrin mit dem Reinigen des Messers fertig war.
»Gebt ihm Hagebuttentee«, sagte Kivrin mit dem Gedanken, daß es wenigstens gegen die Skorbut helfen würde. »Und Tee von Weidenrinde.« Sie hielt die gewaschene Messerklinge über das Feuer. Es brannte nicht höher als an dem Tag, als sie davor gesessen hatte, zu schwach, um auch nur den Waldrand zu erreichen. Es würde den Jungen niemals warmhalten. »Du mußt Brennholz sammeln, der Junge braucht Wärme«, sagte sie zu der Frau. »Aber geh nicht zu den Nachbarn und halte dich von anderen fern.« Ob die Frau sie verstanden hatte und ihren Rat befolgen würde, blieb ungewiß.
Vom Weihnachtsschmaus war noch Essen übrig, aber alles andere ging rasch zur Neige. Den Großteil des zu Scheiten gehackten Brennholzes hatten sie verfeuert, um Rosemund und den Sekretär warmzuhalten, und es gab niemanden, den sie bitten konnte, die vor dem Küchenhaus zuhauf liegenden Klötze zu spalten. Der Dorfvorsteher war krank, der Verwalter pflegte seine kranke Frau und den Sohn und mußte die übrigen Kinder versorgen.
Kivrin nahm einen Armvoll Holzscheite und ein paar lose Rindenstücke zum Anzünden und trug sie über den Dorfanger zu der Hütte des kranken Jungen; sie mochte sich nicht auf die Initiative der Mutter verlassen. Gern hätte sie den Jungen mit zum Herrenhaus genommen, aber Eliwys hatte den Sekretär und Rosemund zu versorgen und schien selbst dem Zusammenbruch nahe. Die ganze Nacht hatte sie bei Rosemund gesessen, ihr Tee aus Weidenrinde eingeflößt und die Wunde neu verbunden. Sie hatten keinen Verbandstoff mehr, und Eliwys hatte ihr Kopftuch abgenommen und in Streifen gerissen. Sie saß stets so, daß sie den Eingang sehen konnte, und alle paar Minuten stand sie auf und ging zur Tür, als hätte sie Hufgetrappel oder Stimmen gehört. Nun, da ihr das dunkle Haar offen auf die Schultern hing, sah sie kaum älter aus als Rosemund.
Als Kivrin in die Hütte kam, sah sie auf den ersten Blick, daß ihre Befürchtung berechtigt gewesen war. Die Frau war nicht zum Brennholzsammeln in den Wald gegangen. Kivrin lud ihre Last auf den gestampften Lehmboden neben dem Rattenkäfig ab. Die Ratte war fort, wahrscheinlich getötet, und nicht einmal schuldig. »Der Herr hat uns gesegnet«, sagte die Frau zu ihr. Sie kniete beim Feuer und begann sorgfältig Scheite nachzulegen.
Kivrin ermahnte sie noch einmal, im nahen Wald Brennholz zu sammeln, da sie ihr nichts mehr bringen könne, und untersuchte den Jungen. Aus seiner Pestbeule rann eine wäßrige Flüssigkeit, was sie für ein gutes Zeichen nahm. Rosemunds Beule hatte die halbe Nacht Flüssigkeit abgesondert und dann angefangen, wieder anzuschwellen und hart zu werden. Und ich kann sie nicht wieder aufschneiden, dachte Kivrin. Noch mehr Blutverlust hält sie nicht aus.
Unterwegs zum Gutshof, beschäftigt mit der Überlegung, ob sie Eliwys helfen oder sich im Holzhacken versuchen solle, begegnete sie Pater Roche, der aus dem Haus des Verwalters kam und Nachricht brachte, daß zwei weitere Kinder des Verwalters erkrankt waren.
Es waren die zwei kleinen Jungen, und sie hatten offensichtlich die Lungenpest. Beide husteten, und die Mutter würgte und erbrach in Abständen wässerigen Auswurf. »Herr erbarme dich unser«, sagte Pater Roche.
Kivrin kehrte zurück ins Haus. Die Luft war noch dunstig vom Schwefel, und im gelblichen Feuerschein sahen die Arme des Sekretärs beinahe schwarz aus. Das Feuer war weit heruntergebrannt und im Verhältnis zur Größe des Raumes nicht besser als das in der Hütte, von der sie gekommen war. Kivrin trug den Rest des geschnittenen Holzes herein und sagte Eliwys, sie solle sich hinlegen. Sie, Kivrin, werde Rosemund pflegen.
Eliwys wollte davon nichts wissen, und der Blick, den sie zur Tür gehen ließ, machte den Grund deutlich. Als ob es noch einer Erklärung bedürfte, sagte sie: »Er ist seit drei Tagen unterwegs.«
Diese Zeit benötigte er mindestens, um die Strecke nach Bath in beiden Richtungen zurückzulegen. Wenn es ihm gelungen war, dort ohne längeres Suchen seinen Herrn zu finden und zur Abreise zu bewegen, konnte er heute zurückkommen. Es sei denn, er oder Herr Guillaume wären erkrankt…
Agnes machte leise summende Geräusche und spielte mit ihrem Wagen. Sie hatte ein Halstuch wie eine Decke darübergelegt und machte Bewegungen, als füttere sie ihn mit imaginärer Nahrung. »Er hat die Blaukrankheit«, vertraute sie Kivrin an.
Diese verbrachte den Rest des Tages mit Hausarbeiten, trug Wasser herein, bereitete Fleischbrühe von den Bratenresten, leerte die Nachttöpfe. Die Kuh des Verwalters kam muhend in den Hof, das Euter geschwollen, folgte Kivrin und stieß sie auffordernd mit den Hörnern, bis Kivrin nachgab und sie molk. Zwischen Krankenbesuchen beim Verwalter und dem Jungen hackte Pater Roche Holz und als Kivrin ihre anderen Arbeiten verrichtet hatte, versuchte sie es ihm gleichzutun und hackte, ärgerlich, daß sie es nicht gelernt hatte, unbeholfen auf den großen Kloben herum.
Kurz vor Dunkelwerden kam der Verwalter und bat um Hilfe für seine jüngere Tochter. Das ist der bisher achte Fall, dachte Kivrin. Das Dorf zählte nur vierzig Einwohner. Ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung Europas, so hieß es, war der Pest zum Opfer gefallen, und Mr. Gilchrist hielt diese Zahl auf Grund seines Quellenstudiums für übertrieben. Ein Drittel, das würden dreizehn Fälle sein, nur noch fünf. Selbst bei fünfzig Prozent würden nur zwölf weitere Erkrankungen zu verzeichnen sein, und die Kinder des Verwalters waren wie er selbst dem Erreger ausgesetzt gewesen.
Sie ging mit ihm und sah sie an, die ältere Tochter stämmig und dunkelhaarig wie ihr Vater, den jüngsten Sohn, der das schmale, scharfgeschnittene Gesicht der Mutter hatte, den beängstigend mageren Säugling. Sie waren alle verloren, und das ließ in ihrer Rechnung noch acht Fälle offen.
Sie schien ausgelaugt, unfähig, etwas zu empfinden, selbst als der Säugling zu weinen begann und das Mädchen ihn in den Arm nahm und ihm den schmutzigen Finger in den Mund steckte. Dreizehn, betete sie. Höchstens zwanzig, lieber Gott.
Sie konnte auch nichts für den Sekretär empfinden, obwohl sich immer deutlicher abzeichnete, daß er die Nacht nicht überleben würde. Lippen und Zunge waren mit einem braunen Schleim bedeckt, und er hustete wässerigen, mit Blut durchsetzten Speichel. Sie versorgte ihn mechanisch, ohne Gefühl.
Es ist der fehlende Schlaf, dachte sie; er macht uns alle stumpf und taub. Sie legte sich am Feuer nieder und versuchte zu schlafen, doch schien ihre Übermüdung den Punkt erreicht zu haben, wo sie keine Ruhe finden konnte. Noch acht Leute, dachte sie, und addierte die möglichen Kandidaten zu den Erkrankten. Die Mutter des Jungen, Frau und Kinder des Verwalters, vielleicht er selbst. Blieb ein Rest von drei bis vier, deren Gefährdung noch nicht akut schien. Wenn es nur nicht Agnes sein würde, oder Eliwys. Oder Pater Roche.
Am Morgen fand Pater Roche die Köchin halb erfroren und Blut hustend im Schnee vor ihrer Hütte. Neun, dachte Kivrin.
Die Köchin war eine Witwe, ohne Angehörige, die sie versorgen konnten, also trugen sie sie in den Herdraum des Herrenhauses und legten sie neben dem Sekretär ins Stroh, der zu Kivrins Verwunderung und Entsetzen noch immer lebte. Die Blutergüsse hatten inzwischen auf seinen ganzen Körper übergegriffen, sein Leib war bedeckt mit blauschwarzen Flecken, Arme und Beine fast durchgehend schwarz. Ein schwarzer Stoppelbart überzog seine Wangen und sah irgendwie auch einem Symptom gleich, und die Augen waren von dunklen Blutergüssen fast zugeschwollen.
Rosemund lag nach wie vor bleich und still auf der Schneide zwischen Leben und Tod, und Eliwys pflegte sie mit leiser Behutsamkeit, als könnte jede unbedachte Bewegung, jedes unnötige Geräusch ihr Schicksal besiegeln. Kivrin ging auf Zehenspitzen zwischen den Strohlagern umher, und Agnes, welche die Notwendigkeit des Stillschweigens spürte, es aber nicht ertragen konnte, geriet ganz und gar außer sich. Sie winselte und quengelte, sie hing an der Barrikade, sie bettelte Kivrin ein halbes Dutzend Male, mit ihr zu Blackies Grab zu gehen, ihr Pony zu besuchen, ihr etwas zu essen zu bringen, ihr die Geschichte von dem bösen Mädchen im Wald fertig zu erzählen.