»Wenn sie dem Tode nahe sind und sich nicht des Beistandes eines Priesters versichern können«, las sie, »dann sollten sie einander die Beichte ablegen und von ihren Sünden lossprechen. Im Namen unseres Herrn Jesu Christi bitten Wir euch, in diesen Zeiten der Not so zu verfahren.«
Weder der Junge noch Pater Roche sagte etwas, als sie die Botschaft verlesen hatte. Vielleicht hatte der Junge nicht gewußt, was er überbrachte. Sie rollte das Pergament wieder zusammen und gab es ihm zurück.
Der Junge hing mehr im Sattel als daß er saß. »Ich bin drei Tage geritten«, sagte er. »Kann ich hier nicht eine Weile ausruhen?«
»Es ist gefährlich«, sagte Kivrin mitleidig. »Wir werden dir Nahrung für dich und dein Pferd mitgeben.«
Pater Roche wandte sich, zum Küchenhaus zu gehen, und Kivrin besann sich auf ihre Suche. »Hast du im Dorf ein kleines Mädchen gesehen?« fragte sie den Jungen. »Ein fünfjähriges Kind mit einem roten Umhang und einer Haube?«
»Nein«, sagte der Junge, »aber es sind viele auf den Straßen. Sie fliehen die Pestilenz.«
Als Kivrin in die Scheune ging und für das Pferd einen Sack mit Hafer füllte, kam Eliwys aus dem Haus gelaufen, daß ihre Röcke sich zwischen den Beinen verfingen und das offene Haar im Wind flog.
»Nicht zu nahe kommen!« rief Kivrin von der Scheuneneinfahrt, aber Eliwys hatte die Hand bereits am Zaumzeug des Pferdes.
»Woher kommst du?« fragte sie den Jungen und faßte mit der freien Hand nach seinem Ärmel. »Hast du nichts vom Gefolgsmann meines Gemahls gesehen?«
Der Junge sah sie verwirrt und furchtsam an. »Ich komme aus Bath, mit einer Botschaft vom Bischof«, sagte er und zog an den Zügeln. Das Pferd wieherte und warf den Kopf auf.
»Was für einer Botschaft?« fragte Eliwys wie von Sinnen. »Ist sie von Gawyn?«
»Ich kenne den Mann nicht, von dem Ihr sprecht«, sagte der Junge.
»Er reitet einen schwarzen Hengst mit silberbeschlagenem Sattel«, beharrte sie. Ihre Hand zog an der Trense. »Er ist nach Bath geritten, meinen Gemahl zu holen, der als Zeuge beim Geschworenengericht geladen ist.«
»Niemand geht nach Bath«, sagte der Junge. »Alle, die können, fliehen es.«
Eliwys strauchelte und mußte sich an der Pferdeschulter halten.
»Es gibt kein Gericht, und kein Gesetz«, sagte der Junge. »Die Toten liegen auf den Straßen, und alle, die sie auch nur anschauen, sterben auch. Manche sagen, es sei der Weltuntergang.«
Eliwys ließ die Trense los und wich einen Schritt zurück. Sie wandte sich um und blickte halb flehend, halb hoffnungsvoll zu Kivrin und Pater Roche. »Dann werden sie sicherlich bald daheim sein. Es ist gewiß, daß du sie nicht auf der Straße gesehen hast? Er reitet einen schwarzen Hengst.«
»Es sind viele Reiter unterwegs, und viele, die zu Fuß flohen.« Er lenkte das Pferd zu Pater Roche, der ihm einen Leinensack mit Lebensmitteln hinaufreichte und Kivrin half, den Hafersack mit einem Hanfstrick hinter dem Sattel festzubinden. Als sie fertig waren, dankte der Junge, lenkte den Rappen herum und hätte beinahe Eliwys zu Boden gestoßen, welche wie erstarrt stand, ohne aus dem Weg zu gehen.
Kivrin trat zu ihm und ergriff einen Zügel. »Reite nicht zurück zum Bischof«, sagte sie. Er riß den Zügel hoch. Ihr Anblick schien ihm noch mehr Furcht einzuflößen als Eliwys’.
Sie ließ nicht los. »Reite nach Norden«, sagte sie. »Dort ist die Pest noch nicht.«
Mit einem Ruck befreite er den Zügel aus ihrer Hand. Er stieß dem Hengst die Fersen in die Flanken und galoppierte vom Hof.
»Halte dich von den Hauptstraßen fern«, rief Kivrin ihm nach. »Sprich mit niemandem.«
Eliwys stand noch immer am selben Fleck.
»Kommt«, sagte Kivrin, »wir müssen Agnes suchen.«
»Mein Mann und Gawyn werden zuerst nach Courcy geritten sein, um Sir Bloet zu warnen«, sagte sie und ließ sich von Kivrin ins Haus führen.
Kivrin ließ sie beim Herdfeuer zurück und ging hinaus, die Scheune zu durchsuchen. Agnes war nicht da, aber sie fand ihren eigenen Umhang auf der Tenne, den sie in der Christnacht dort zurückgelassen hatte. Sie warf ihn über und durchsuchte alle Winkel des Heubodens. Sie suchte im Brauhaus, und Pater Roche durchsuchte den Geräteschuppen und das Backhaus, aber sie fanden sie nicht. Während sie mit dem Boten gesprochen hatten, war ein kalter Wind aufgekommen, und es roch nach Schnee.
»Vielleicht ist sie im Haus«, meinte Pater Roche. »Habt Ihr hinter dem Lehnstuhl nachgesehen?«
Sie suchte noch einmal das Haus ab, schaute hinter dem Lehnstuhl und unter die Betten in den Kammern. Maisry kauerte noch am selben Fleck und fing an zu wimmern, als Kivrin zurückkam, und sie mußte der Versuchung widerstehen, ihr einen Fußtritt zu versetzen. Sie ging zu Frau Imeyne, die an der Wand kniete, und fragte sie, ob sie Agnes gesehen habe.
Die alte Frau ließ den Rosenkranz durch die Finger gehen, bewegte stumm die Lippen und ignorierte sie.
Kivrin schüttete ihre Schulter. »Habt Ihr sie hinausgehen sehen?«
Frau Imeyne wandte den Kopf und sah mit böse glitzernden Augen zu ihr auf. »Sie ist schuld«, sagte sie.
»Agnes?« Kivrin war entrüstet. »Wie könnte es ihre Schuld sein?«
Imeyne schüttelte den Kopf und machte eine Kopfbewegung zu Maisry. »Gott straft uns für Maisrys Bosheit.«
»Agnes ist fort, und es wird dunkel«, sagte Kivrin. »Wir müssen sie finden. Habt Ihr nicht gesehen, wohin sie ging?«
»Schuld«, flüsterte die alte Frau und wandte sich ab.
Es wurde spät, und der Wind pfiff um das Haus. Kivrin rannte hinaus über den Hof und durch die Zufahrt auf den Dorfanger.
Es war wie der Tag, als sie auf eigene Faust versucht hatte, den Absetzort zu finden. Kein Mensch war auf dem schneebedeckten Anger, und der Wind zerrte an ihren Kleidern und ließ die Röcke flattern, als sie über die freie Fläche lief. Weit im Nordosten läutete irgendwo eine Glocke mit den dünnen, gleichmäßigen Tönen eines Totengeläutes.
Agnes hatte den Glockenturm geliebt. Kivrin ging hinein und rief die hölzerne Stiege hinauf, obwohl sie durch die offenen Stufen und am Seil aufwärts bis zum Glockenstuhl sehen konnte. Wieder draußen, stand sie im Schnee, blickte zu den Hütten hinüber und überlegte, wohin Agnes gegangen sein könnte.
Nicht zu den Hütten, es sei denn, sie hätte sehr gefroren. Blackie. Sie hatte das Grab ihres Welpen sehen wollen. Kivrin hatte ihr nicht gesagt, daß sie ihn am Waldrand begraben hatte und Agnes war darauf aus gewesen, ihn auf dem Friedhof zu begraben. Der Friedhof lag so verlassen wie der Dorfanger, aber Kivrin ging durch die Pforte hinein.
Agnes war dagewesen. Die Abdrücke ihrer kleinen Stiefel führten von Grab zu Grab und dann weiter zur Nordseite der Kirche. Kivrin blickte die ansteigende Wiese zum Waldrand hinauf. Konnte sie in den Wald gegangen sein? Dann würde es sehr schwierig werden, sie zu finden, denn es begann bereits zu dunkeln.
Sie folgte der kleinen Fährte halb um die Kirche und im Bogen wieder zurück und zur Kirchentür. Im Inneren war es fast dunkel und kälter als auf dem windgepeitschten Friedhof. »Agnes!« rief sie in die schwer lastende Dunkelheit.
Es kam keine Antwort, aber hinter der Chorschranke entstand ein leises Geräusch wie von einer Ratte, die über die Steinplatten davonhuschte. »Agnes?« sagte Kivrin und spähte in die Dunkelheit der Seitenschiffe und hinter dem Sarkophag. »Bist du hier?«
»Kivrin?« sagte eine halberstickte kleine Stimme.
»Agnes!« Sie rannte in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. »Wo bist du?«