»Welchen Tag haben wir?« sagte er, aber sie war bereits hinausgehinkt. »Welchen Tag haben wir?« fragte er Mrs. Gaddson, aber auch sie war fort.
Er konnte noch nicht lange hier sein. Er hatte immer noch Kopfschmerzen und Fieber, welches frühe Symptome von Influenza waren. Vielleicht war er erst seit ein paar Stunden krank. Ja, vielleicht war es noch derselbe Nachmittag, und er war aufgewacht, als sie ihn in den Raum geschoben hatten und bevor sie noch Zeit gehabt hatten, einen Notrufknopf anzuschließen oder ein Fieberthermometer anzubringen.
»Zeit zum Fiebermessen«, sagte die Schwester. Es war eine andere, die hübsche blonde Schwester, die ihn über William Gaddson ausgefragt hatte.
»Ich habe vorhin schon eine Kapsel geschluckt.«
»Das war gestern«, sagte sie. »Kommen Sie, schlucken Sie schon.«
Jemand hatte ihm erzählt, daß sie krank sei. »Ich dachte, Sie hätten das Virus«, sagte er.
»Das stimmt, aber es geht mir schon besser, und Sie werden auch bald gesund sein.« Sie schob die Hand hinter seinen Kopf und stützte ihn, daß er einen Schluck Wasser nehmen konnte.
»Welchen Tag haben wir?« fragte er.
»Den Elften«, sagte sie. »Ich mußte erst überlegen. Zum Schluß ging es ein bißchen hektisch zu. Beinahe das gesamte Personal war krank, und die anderen arbeiteten in doppelten Schichten. Ich wußte gar nicht mehr, welchen Tag und welches Datum wir hatten.« Sie tippte etwas in die Konsole und blickte mit gerunzelter Stirn zu den Kontrollanzeigen auf.
Er hatte es bereits gewußt, bevor sie es ihm gesagt hatte, bevor er versucht hatte, die Tischglocke zu erreichen und um Hilfe zu läuten. Das Fieber machte einen einzigen endlosen regnerischen Nachmittag aus all den im halbbetäubten Fieberwahn verbrachten Nächten und von Drogen benebelten Vormittagen, an die er sich nicht erinnern konnte, aber sein Körper war dem Zeitablauf auf der Spur geblieben, hatte die Stunden und die Tage geläutet, so daß er im Bilde gewesen war, noch bevor sie es ihm gesagt hatte. Er hatte den Rückholtermin versäumt.
Es gab keine Rückholtermin, sagte er sich voll Bitterkeit. Gilchrist hat das Netz abgeschaltet. Wäre er zur Stelle und nicht krank gewesen, hätte es keinen Unterschied gemacht. Das Netz war geschlossen, und er hätte nichts tun können.
Der 11. Januar. Wie lange hatte Kivrin am Absetzort gewartet? Einen Tag? Zwei Tage? Drei Tage, bevor sie angefangen hatte zu zweifeln, ob das Datum falsch sein könnte, oder der Ort? Hatte sie die ganze Nacht an der Landstraße von Oxford nach Bath gewartet, eingewickelt in ihren pelzgefütterten Umhang, aus Furcht, das Licht könnte Räuber oder Diebe anlocken, ohne ein wärmendes Feuer? Und wann war ihr schließlich klar geworden, daß niemand kommen und sie holen würde?
»Kann ich Ihnen was bringen?« fragte die Schwester. Sie stieß eine Spritze in die Kanüle.
»Ist das ein Schlafmittel?« fragte er.
»Ja.«
»Gut«, sagte er und schloß dankbar die Augen.
Er schlief entweder ein paar Minuten oder einen Tag oder einen Monat lang. Das Licht, der Regen, das Fehlen der Schatten waren unverändert, als er erwachte. Colin saß auf dem Stuhl neben dem Bett und las in dem Buch, das Dunworthy ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Und er lutschte an etwas. Es kann nicht so viel Zeit vergangen sein, dachte Dunworthy, der den Jungen nur verschwommen wahrnahm, er lutscht noch immer an den Dingern, die ich ihm zu Weihnachten gab.
»Ah, gut«, sagte Colin und schlug das Buch zu. »Diese gräßliche Schwester sagte, ich könnte nur bleiben, wenn ich versprechen würde, Sie nicht zu wecken.
Und das tat ich auch nicht. Werden Sie ihr sagen, daß Sie von selbst aufgewacht sind, bitte?«
Er nahm aus dem Mund, was er lutschte, betrachtete es und steckte es in die Tasche. »Haben Sie sie gesehen? Sie muß schon im Mittelalter gelebt haben. Sie ist beinahe so nekrotisch wie Mrs. Gaddson.«
Dunworthy blinzelte zu ihm hin. Er hatte eine neue Jacke an, eine grüne, und der graue Plaidschal um seinen Hals sah in dieser Kombination noch düsterer aus, und Colin wirkte älter, als ob er gewachsen wäre, während Dunworthy geschlafen hatte.
Colin runzelte die Stirn. »Ich bin es, Colin. Erkennen Sie mich nicht?«
»Ja, natürlich kenne ich dich. Warum trägst du keine Schutzmaske?«
Colin grinste. »Ich brauche nicht. Und jedenfalls sind Sie nicht mehr ansteckend. Wollen Sie Ihre Brille?«
Dunworthy nickte vorsichtig, um die Kopfschmerzen nicht wieder zu wecken.
»Als Sie die anderen Male aufwachten, erkannten Sie mich überhaupt nicht.« Er suchte in der Schublade des Nachttisches und gab Dunworthy seine Brille. »Sie waren furchtbar schlecht drauf. Ich dachte schon, Sie würden einpacken. Sie nannten mich immer Kivrin.«
»Welchen Tag haben wir?«
»Den Zwölften«, sagte Colin ungeduldig. »Das fragten Sie mich erst heute früh. Erinnern Sie sich nicht?«
Dunworthy setzte die Brille auf. »Nein.«
»Erinnern Sie sich an nichts von dem, was passiert ist?«
Ich erinnere mich, wie ich Kivrin im Stich ließ, dachte er. Ich erinnere mich, daß ich sie im Jahr 1348 ihrem Schicksal auslieferte.
Colin schob den Stuhl näher und legte das Buch auf das Bett. »Die Schwester sagte mir, Sie würden sich nicht erinnern, des Fiebers wegen«, sagte er, und es hörte sich an, als sei er ärgerlich über Dunworthy, als ob es seine Schuld wäre. »Sie wollte mich nicht zu Ihnen lassen und wollte mir nichts sagen. Ich finde das absolut unfair. Sie lassen einen im Wartezimmer sitzen und sagen einem, man solle nach Hause gehen, hier gebe es nichts zu tun, und wenn man Fragen stellt, sagen sie: ›Der Arzt wird gleich mit dir reden‹, und wollen einem nichts sagen. Sie behandeln einen wie ein Kind. Ich meine, irgendwann muß man doch etwas erfahren, nicht? Wissen Sie, was die Schwester heute morgen tat? Sie setzte mich an die Luft. Sie sagte: ›Mr. Dunworthy ist sehr krank gewesen. Ich möchte nicht, daß du ihn aufregst.‹ Als ob ich das tun würde.«
Er machte ein empörtes Gesicht, aber Dunworthy sah auch, daß er müde und besorgt war, und er mußte daran denken, wie der Junge sich tagelang in den Korridoren herumgetrieben und im Wartezimmer gesessen hatte, um etwas zu erfahren. Kein Wunder, daß er älter aussah.
»Und gerade eben sagte Mrs. Gaddson, ich solle Ihnen nur gute Nachrichten erzählen, weil schlechte Nachrichten sehr wahrscheinlich zu einem Rückfall führen würden, an dem Sie sterben könnten, und dann würde es meine Schuld sein.«
»Mrs. Gaddson hält immer noch die Moral aufrecht, wie ich sehe«, sagte Dunworthy. Er lächelte Colin zu. »Es besteht wohl keine Aussicht, daß das Virus sie zu Boden streckt?«
Colin schüttelte den Kopf. »Die Epidemie ist zum Stillstand gekommen«, sagte er. »Nächste Woche wird die Quarantäne aufgehoben.«
Dann hatte Marys ständiges Drängen doch noch Erfolg gehabt und der Impfstoff war eingetroffen. Er fragte sich, ob er noch rechtzeitig gekommen war, um Badri zu helfen, und ob das vielleicht die schlechte Nachricht war, die Mrs. Gaddson ihm vorenthalten wollte. Die schlechte Nachricht, dachte er bei sich, habe ich bereits erhalten. Die Fixierung ist verloren, und Kivrin ist im Jahr 1348.
»Erzähl mir ein paar gute Neuigkeiten«, sagte er.
»Ja, seit zwei Tagen ist niemand krank geworden«, sagte Colin, »und endlich klappt es auch mit der Versorgung, so daß wir anständig zu essen bekommen.«
»Du hast auch neue Sachen bekommen, wie ich sehe.«
Colin blickte an sich herab auf die grüne Jacke. »Das ist eines der Weihnachtsgeschenke meiner Mutter. Sie schickte sie, nachdem…« Er brach ab und runzelte die Stirn. »Sie schickte mir auch ein paar Videos, und einen Satz Gesichtsmasken.«
War es möglich, daß sie tatsächlich gewartet hatte, bis die Epidemie vorüber war, bevor sie sich der Mühe unterzogen hatte, Colins Geschenke abzuschicken? Was mochte Mary dazu gesagt haben?