Colin stand auf. »Sehen Sie, die Jacke schließt sich automatisch. Man drückt nur den Knopf hier, so. Sie brauchen mir nicht mehr zu sagen, daß ich den Reißverschluß zumachen soll.«
Die Schwester kam hereingeraschelt. »Hat er Sie aufgeweckt?« fragte sie.
»Sehen Sie«, sagte Colin. »Bestimmt nicht, Schwester. Ich war so still, daß Sie nicht mal das Umblättern gehört hätten.«
»Er hat mich nicht geweckt, und er stört mich nicht«, sagte Dunworthy, bevor sie die nächste Frage stellen konnte. »Er erzählt mir nur gute Neuigkeiten.«
»Du solltest Mr. Dunworthy überhaupt nichts erzählen, er muß ruhen«, sagte sie und hängte einen Plastikbeutel mit klarer Flüssigkeit an den Tropf. »Mr. Dunworthy ist immer noch zu krank, um von Besuchern belästigt zu werden.« Sie drängte Colin aus dem Zimmer.
»Wenn Sie so besorgt sind, daß Mr. Dunworthy von Besuchern belästigt wird, warum hindern Sie dann nicht Mrs. Gaddson daran, ihm ihre Horrorstellen aus der Bibel vorzulesen?« protestierte Colin. »Damit kann sie jeden krank machen.« Er blieb in der Türöffnung stehen und starrte die Schwester herausfordernd an. »Morgen werde ich wiederkommen. Mr. Dunworthy, gibt es etwas, was Sie gern hätten?«
»Wie geht es Badri?« fragte Dunworthy, auf alles gefaßt.
»Besser«, sagte Colin. »Er war beinahe gesund, hatte aber einen Rückfall. Jetzt ist er aber wieder ziemlich gut beisammen. Er möchte Sie sprechen.«
»Nein«, sagte Dunworthy, aber die Schwester hatte bereits die Tür geschlossen.
Natürlich war es nicht Badris Schuld. Desorientierung war eines der Frühsymptome. Er dachte an sich selbst, unfähig, Andrews’ Nummer zu wählen, an Mrs. Piantini, die beim Schellenläuten einen um den anderen Fehler gemacht und sich immer wieder entschuldigt hatte.
Nein, es war nicht Badris Schuld gewesen. Es war seine Schuld. Er war so unruhig und besorgt über die Berechnungen des Technikerlehrlings gewesen, daß er Badri mit seinen Ängsten angesteckt und keine Ruhe gegeben hatte, bis dieser beschlossen hatte, die Koordinaten neu zu berechnen und einzugeben. So war durch seine eigene Nervosität aus einer richtigen eine falsche Berechnung geworden.
Colin hatte sein Buch auf dem Bett zurückgelassen. Dunworthy zog es zu sich her. Es kam ihm unmöglich schwer vor, so schwer, daß sein Arm von der Anstrengung, es offen zu halten, zitterte, aber er stützte es gegen die Wand und blätterte die aus seinem Blickwinkel beinahe unlesbaren Seiten, bis er fand, wonach er suchte.
Die Pest war in Oxford um Weihnachten ausgebrochen, hatte zur Schließung der Universität geführt und alle, die dazu imstande waren, veranlaßt, in die umliegenden Dörfer zu fliehen und damit unfreiwillig für die Ausbreitung der Seuche zu sorgen. In der Stadt waren die Menschen zu Tausenden gestorben, so daß »niemand übrig war, seinen Besitz zu halten, und sich nicht genug Gesunde fanden, die Toten zu begraben«. Und die wenigen, die verschont blieben, verbarrikadierten sich in ihren Häusern, verbargen sich und suchten nach Schuldigen.
Er schlief mit der Brille auf der Nase ein, aber als die Schwester sie abnahm, wachte er auf. Es war die Praktikantin, und sie lächelte ihm zu.
»Tut mir leid«, sagte sie, als sie die Brille in die Schublade tat. »Ich wollte Sie nicht wecken.«
Dunworthy blinzelte sie an. »Colin sagt, die Epidemie sei vorbei.«
»Ja«, sagte sie, den Blick auf den Kontrollanzeigen hinter ihm. »Man fand den Ursprung des Erregers und bekam gerade noch rechtzeitig den Impfstoff. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung hatte eine Sterblichkeitsrate von 8,5 Prozent trotz Antibiotika und T-Zellen-Verstärkung errechnet, und dabei waren die Versorgungsmängel und der Ausfall von Pflegepersonal nicht berücksichtigt. Inzwischen ist errechnet worden, daß wir eine Sterblichkeitsrate von 19 Prozent hatten, und viele Fälle sind noch kritisch.«
Sie ergriff sein Handgelenk und blickte zur Temperaturanzeige hinter seinem Kopf. »Ihr Fieber ist ein wenig gesunken«, sagte sie. »Sie können von Glück sagen, wissen Sie. Der Impfstoff wirkt nicht bei denen, die bereits infiziert sind. Dr. Ahrens…« Sie brach ab. Er fragte sich, was Mary gesagt hatte. Daß er eingehen würde? »Sie haben großes Glück gehabt«, sagte sie. »Versuchen Sie jetzt zu schlafen.«
Er schlief, und als er wieder erwachte, stand Mrs. Gaddson an seinem Bett, bereit zum Angriff mit ihrer Bibel.
»Der Herr wird euch mit den sieben Plagen Ägyptens schlagen«, sagte sie, sobald er die Augen geöffnet hatte, »alle Krankheiten und Seuchen wird er euch senden, bis ihr vernichtet seid.«
»Und ihr sollt dem bösen Feind in die Hände fallen«, murmelte Dunworthy.
»Was?«
»Nichts.«
Sie hatte ihre Stelle verloren, blätterte hin und her, suchte nach Pestilenzen und begann zu lesen: »Darum sandte Gott seinen erstgeborenen Sohn in die Welt.«
Gott hätte ihn nie geschickt, wenn er gewußt hätte, was geschehen würde, dachte Dunworthy. Herodes und der Mord an den unschuldigen Kindern und Gethsemane.
»Lesen Sie mir Matthäus, Kapitel 26, Vers 39«, sagte er.
Mrs. Gaddson hielt irritiert inne und blätterte zum Evangelium des Matthäus. »Er ging ein wenig vorwärts, fiel auf Sein Antlitz nieder und betete: ›Mein Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir vorüber. Doch nicht wie ich will, sondern wie Du willst.‹«
Gott wußte nicht, wo Sein Sohn war, dachte Dunworthy. Er hatte seinen Sohn in die Welt gesandt, und etwas war mit der Fixierung schiefgegangen, jemand hatte das Netz abgeschaltet, so daß Er nicht zu ihm durchkommen konnte, und sie hatten ihn festgenommen und eine Dornenkrone aufgesetzt und ans Kreuz genagelt.
»Kapitel 27«, sagte er. »Vers 46.«
Sie schürzte unwillig die Lippen und blätterte um. »Ich glaube wirklich nicht, daß dies geeignete Bibelstellen für…«
»Lesen Sie!« sagte er.
»Und um die neunte Stunde rief Jesus mit lauter Stimme: ›Eli, eli, lama sabakthani?‹ das heißt, mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?«
Kivrin würde keine Ahnung haben, was geschehen war. Sie würde sich am falschen Ort oder in der falschen Zeit wähnen und glauben, sie habe über den Aufregungen der Seuchenzeit die Übersicht verloren und die Tage nicht richtig gezählt. Sie würde sich im Stich gelassen fühlen.
»Noch weitere Wünsche?« fragte Mrs. Gaddson.
»Nein.«
Sie blätterte zurück zum Alten Testament. »Denn sie sollen fallen durch das Schwert, durch die Hungersnot und Pestilenz«, las sie. »Wer fern von seinem Heim ist, wird an der Pestilenz zugrunde gehen.«
Trotz allem schlief er und erwachte endlich zu etwas anderem als einem endlosen Nachmittag. Zwar regnete es noch oder schon wieder, aber es gab Schatten im Zimmer, und gerade läuteten die Glocken vier Uhr. Die Praktikantin half ihm zur Toilette. Das Buch war verschwunden; anscheinend war Colin dagewesen und hatte es mitgenommen, während er geschlafen hatte, doch als die Schwester die Tür des Nachttisches öffnete, um seine Pantoffeln herauszunehmen, sah er es dort liegen. Er bat sie, sein Bett hochzukurbeln, daß er darin sitzen könne, und als sie gegangen war, setzte er die Brille auf und nahm sich wieder das Buch vor.
Die Pest hatte sich so willkürlich ausgebreitet und so verheerend gewütet, daß es den Zeitgenossen unmöglich gewesen war, eine natürliche Krankheit in ihr zu sehen. Sie hatten Leprakranke und alte Frauen und geistig Behinderte beschuldigt, Brunnen vergiftet und das Volk verflucht zu haben. Bei allem Aberglauben und aller Unwissenheit sagte ihnen ein gesunder und sicherer Instinkt, daß die Gefahr von außen kam, und so war es nur folgerichtig, daß jeder Ortsfremde verdächtig war. Man stellte Wachen auf und schloß die Stadttore — in der Regel freilich zu spät -, vertrieb fahrende Händler vom Gemeindeland und schreckte auch vor Gewalttaten nicht zurück. In Sussex hatte man zwei Reisende gesteinigt, in Yorkshire eine junge Frau als Hexe verbrannt.