Sie ist noch ohne Bewußtsein, ihr Puls sehr schwach. Agnes schreit und zappelt in ihrem Delirium. Immer wieder ruft sie nach mir, doch wenn ich komme, will sie mich nicht zu sich lassen. Wenn ich zu ihr spreche, zappelt und schreit sie wie in einem Wutanfall.
Eliwys erschöpft sich in der Pflege der beiden Mädchen und ihrer Schwiegermutter, die »Teufel in!« schreit, wenn ich in ihre Nähe komme, und mir erst heute morgen beinahe ein blaues Auge verpaßte. Der einzige, der mich in seine Nähe läßt, ist der Sekretär, der jenseits aller Sorgen und Ängste ist. Er wird den Tag schwerlich überleben. Er riecht so entsetzlich, daß wir ihn zum anderen Ende des Raumes schleppen mußten. Seine Pestbeule hat wieder angefangen zu eitern.
Gunni, der zweite Sohn des Verwalters.
Die Frau mit den Skrofulosenarben am Hals.
Maisrys Vater (?)
Cob, der Stalljunge und Pater Roches Meßdiener.
Frau Imeyne geht es schlecht. Pater Roche wollte ihr die Sterbesakramente spenden, aber sie weigert sich, die Beichte abzulegen.
»Ihr müßt Euren Frieden mit Gott machen, bevor Ihr sterbt«, sagte er, aber sie kehrte das Gesicht zur Wand und erwiderte: »Er trägt die Schuld daran.«
Einunddreißig Fälle. Mehr als 75 Prozent. Pater Roche weihte heute früh einen Teil des Dorfangers, weil der Friedhof nahezu voll ist.
Maisry ist nicht zurückgekommen. Wahrscheinlich schläft sie im Himmelbett irgendeines Herrenhauses, dessen Bewohner geflohen sind, und wenn dies alles vorbei ist, wird sie die Ahnfrau einer alten Adelsfamilie werden.
Vielleicht ist es das, was an unserer Zeit faul ist, Mr. Dunworthy: sie wurde begründet von Leuten wie Maisry und dem Gesandten des Bischofs und Sir Bloet. Und all die wertvollen Menschen, die blieben und zu helfen suchten, wie Pater Roche, bekamen die Pest und starben.
Frau Imeyne hat das Bewußtsein verloren, und Pater Roche gibt ihr die letzte Ölung. Ich bat ihn darum.
»Es ist die Krankheit, die aus ihr spricht«, sagte ich. »Ihre Seele hat sich nicht gegen Gott gekehrt.« Das trifft vielleicht nicht zu, und vielleicht verdient sie keine Vergebung, aber sie verdient auch dies nicht, die Vergiftung und Fäulnis ihres Körpers, und ich kann sie kaum verdammen, daß sie in ihrer Enttäuschung und Verzweiflung Gott schuldig sprach. Und niemand ist verantwortlich. Es ist eine Krankheit.
Der Meßwein ist ausgegangen, und es gibt kein Olivenöl mehr. Pater Roche verwendet ranziges Öl aus dem Küchenhaus, das er geweiht hat. Wo er Imeynes Schläfen und Handflächen berührte, ist die Haut schwarz geworden.
Es ist eine Krankheit.
Agnes’ Befinden hat sich verschlechtert. Es ist herzzerreißend, zusehen zu müssen, wie sie da liegt, keuchend wie ihr armer Welpe und schreit: »Sag Kivrin, sie soll kommen und mich holen. Ich mag hier nicht sein!«
Selbst Pater Riche kann es nicht ertragen. »Warum straft Gott uns so?« fragte er mich.
»Er straft uns nicht. Es ist eine Krankheit«, sagte ich, was keine Antwort ist, und so fügte ich hinzu: »Ich weiß nicht, warum Er sie nicht abgewendet hat. Wir müssen sie als eine Prüfung sehen.«
Ganz Europa weiß es, und die Kirche weiß es auch. Sie wird noch jahrhundertelang nach Erklärungen suchen und nach Begründungen, aber sie kommt nicht an der entscheidenden Tatsache vorbei — daß Er dies geschehen ließ.
Die Glocken sind verstummt. Pater Roche fragte mich, ob ich dächte, es sei ein Zeichen dafür, daß die Pest aufgehört habe. »Vielleicht ist Gott uns doch noch zu Hilfe gekommen«, sagte er.
Ich glaube es nicht. In Tournai gaben die Kirchenoberen Anweisung, das Glockenläuten einzustellen, weil der Klang die Bevölkerung ängstige. Vielleicht hat der Bischof von Bath eine ähnliche Anweisung ergehen lassen.
Das ständige Glockenläuten war wirklich angsteinflößend, aber die Stille ist schlimmer. Sie ist wie das Ende der Welt.
30
Mary war schon zu Beginn seiner Krankheit gestorben. Am selben Tag, als der Impfstoff eingetroffen war, hatten sich bei ihr die ersten Symptome gezeigt. Sehr schnell war eine Lungenentzündung dazugekommen, und am zweiten Tag schon hatte ihr Herz aufgehört zu schlagen. Am 6. Januar. Dreikönig.
»Du hättest es mir sagen sollen«, sagte Dunworthy.
»Ich sagte es Ihnen«, protestierte Colin. »Erinnern Sie sich nicht?«
Er hatte keinerlei Erinnerung daran, wußte nicht mehr, wann Mrs. Gaddson mit ihren biblischen Drohungen und Colin mit seinen spärlichen Informationen bei ihm gewesen war. Es war ihm nicht einmal sonderbar vorgekommen, daß Mary ihn nicht besucht hatte.
»Ich sagte Ihnen, als sie krank wurde«, sagte Colin. »Ich sagte es Ihnen auch, als sie starb, aber Sie waren so krank, daß Ihnen alles gleich war.« Er dachte daran, wie Colin vor ihrem Krankenzimmer auf Nachricht gewartet hatte und dann zu ihm ans Bett gekommen war, um es ihm zu sagen. »Entschuldige, Colin.«
»Sie konnten nichts dafür, daß Sie krank waren«, sagte Colin. »Es war nicht Ihre Schuld. Alle waren sehr nett zu mir, bis auf die Schwester. Sie wollte nicht erlauben, daß ich es Ihnen sagte, selbst nachdem es Ihnen besser ging, aber alle anderen waren nett, außer der Gallenstein. Sie las mir ständig aus der Bibel vor, wie Gott die Ungerechten und Sündhaften straft. Mr. Finch rief meine Mutter an, aber sie konnte nicht kommen, und so übernahm er alle Vorbereitungen für die Beerdigung. Er war sehr nett und hilfsbereit. Auch die Amerikanerinnen waren nett. Sie versorgten mich mit Süßigkeiten.«
»Es tut mir leid«, sagte Dunworthy, und nachdem Colin gegangen war, hinausbefördert von der alten Hilfsschwester, noch einmaclass="underline" »Es tut mir leid.«
Colin kam nicht zurück, und Dunworthy wußte nicht, ob die Schwester ihn aus der Abteilung verbannt hatte, oder ob Colin ihm trotz allem, was er sagte, gram war, daß er ihn im Stich gelassen hatte.
Und er hatte Colin im Stich gelassen, war urplötzlich von der Bühne abgetreten und hatte ihn Mrs. Gaddson und der Krankenschwester und Ärzten preisgegeben, die ihm nichts sagen wollten. Er hatte sich an einen Ort zurückgezogen, wo er unerreichbar gewesen war, so unerreichbar wie Basingame, der an irgendeinem Fluß in Schottland Lachse angelte. Und ganz gleich, was Colin sagte, er mußte gedacht haben, daß Dunworthy, wenn er wirklich gewollt hätte, für ihn dagewesen wäre, um ihm zu helfen, krank oder nicht.
»Sie glauben, daß Kivrin tot ist, nicht?« hatte Colin ihn gefragt, nachdem Montoya gegangen ist. »Genauso wie Mrs. Montoya?«
»Ich fürchte, ja.«
»Aber Sie sagten, Kivrin könne die Pest nicht bekommen. Wie, wenn sie nicht tot ist? Wenn sie jetzt am Absetzort ist und auf Sie wartet?«
»Sie war mit Influenza infiziert, Colin.«
»Aber das waren Sie auch, und tausend andere, die nicht gestorben sind. Vielleicht hat sie es ebenso überstanden. Ich glaube, Sie sollten mit Badri sprechen und sehen, ob er eine Idee hat. Vielleicht kann er die Koordinaten wieder abrufen. Warum sollte mit dem Abschalten des Netzes der Speicher gelöscht worden sein?«
»Du verstehst nicht, Colin. Es ist nicht wie eine Taschenlampe. Die Fixierung kann nicht wieder eingeschaltet werden.«
»Gut, aber dann kann er sie vielleicht wiederholen. Eine neue Fixierung nach den vorhandenen Koordinaten vornehmen. Zur selben Zeit, zum selben Ort.«