Rosemund schloß gehorsam die Augen. Sie sahen weniger eingesunken aus, obwohl sie noch von dunklen Blutergüssen umgeben waren. »Wo ist Agnes?« fragte sie.
Kivrin strich ihr das wirre dunkle Haar aus dem Gesicht. »Sie schläft.«
»Gut«, sagte Rosemund. »Ich mag nicht, wenn sie schreit und herumspringt. Sie ist zu laut.«
»Ich werde dir die Brühe bringen«, sagte Kivrin. Sie ging hinüber zu Eliwys. »Ich habe gute Nachricht«, sagte sie, »Rosemund ist wach.«
Eliwys erhob sich auf einen Ellbogen und schaute zu ihr hinüber, aber zerstreut, als dächte sie an etwas anderes, und gleich darauf legte sie sich wieder zurück.
Besorgt streckte Kivrin die Hand aus und legte sie der anderen auf die Stirn. Sie fühlte sich warm an, aber Kivrins Hände waren noch kalt vom Aufenthalt im Freien, und sie konnte es nicht mit Gewißheit sagen. »Seid Ihr krank?« fragte sie.
Eliwys verneinte, aber noch immer war es, als ob ihre Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt wären. »Was soll ich ihm sagen?«
»Ihr könnt ihm sagen, daß es Rosemund besser geht«, sagte sie, und diesmal schien die Botschaft anzukommen. Eliwys erhob sich und ging zu Rosemund und setzte sich zu ihr. Doch als Kivrin mit der warmen Brühe vom Küchenhaus hereinkam, war Eliwys zu Agnes’ Strohsack zurückgekehrt und lag wie vorher zusammengerollt unter dem pelzbesetzten Umhang.
Rosemund schlief, aber es war nicht der beängstigend totengleiche Schlaf von vorher. Ihre Farbe war besser, obwohl die Gesichtshaut noch immer straff über die Backenknochen gespannt war.
Auch Eliwys schlief oder tat so, als ob sie schliefe, und es war ihr genauso recht. Während sie im Küchenhaus gearbeitet hatte, war der lebende Leichnam des Sekretärs von seinem Strohsack und halb über die Barrikade gekrochen, schwarz und bedeckt mit schwärenden Beulen. Kivrin versuchte ihn zurückzuziehen, und er schlug wild und ungezielt mit den Armen nach ihr. Sie mußte gehen und Pater Roche holen, daß er ihr half, den verwirrten Kranken zu bändigen.
Sein rechtes Auge war ein einziger Eiterherd, als fräße die Pest sich von innen nach außen, und er krallte mit beiden Händen in zwanghafter Wildheit darin herum. In seinem Mund, den er nicht mehr schließen konnte, bewegte sich steif die schwarze und rissige Zunge. »Domine Jesu Christe«, lallte er, »fedelium defunctorium de poenis infermis.«
Ja,betete Kivrin, mit seinen krallenden Fingern ringend, erlöse ihn jetzt.
Sie durchsuchte abermals Imeynes Arzneien, um vielleicht ein schmerzstillendes Mittel zu finden. Es gab kein Opiumpulver unter ihren Kräutern, und Kivrin wußte nicht, ob im England des Jahres 1348 Opium überhaupt bekannt war. Sie fand ein paar orangefarbene Streifen, die ausgetrocknet wie Papier waren und ein wenig wie Mohnblüten aussahen, und um irgend etwas zu tun, goß sie sie mit heißem Wasser auf, aber der Sekretär konnte den Aufguß nicht trinken. Sein Mund war eine einzige schwärende offene Wunde, Zähne und Zunge verklebt mit getrocknetem Blut und Eiter.
Das hat er nicht verdient, dachte Kivrin. Selbst wenn er die Pest hierherbrachte. Niemand hat solch ein grauenhaftes Leiden verdient. »Bitte«, betete sie, und war nicht sicher, was sie erbat.
Was es auch war, es wurde nicht gewährt. Der Sekretär begann dunklen, mit Blut gestreiften Schleim zu erbrechen, und es schneite zwei Tage lang, und Eliwys’ Zustand verschlechterte sich stetig. Es schien nicht die Pest zu sein. Sie hatte keine Beulen und mußte weder husten noch erbrechen, und Kivrin überlegte, ob es eine Krankheit sei oder vielmehr durch Kummer oder Schuldgefühle ausgelöste Symptome. »Was soll ich ihm sagen?« sagte Eliwys wieder und wieder. »Er schickte uns hierher, um uns in Sicherheit zu bringen.«
Kivrin befühlte ihre Stirn. Sie war warm. Es sah so aus, als würden sie alle die Pest bekommen. Ihr Mann hatte sie in die Abgeschiedenheit des Dorfes geschickt, weil er sie hier sicher wähnte, aber das war ein Trugschluß. Der Besuch des bischöflichen Gesandten und seines Gefolges hatte alles verändert. Sie waren alle zum Tode verurteilt. Kivrin wußte nicht, was sie in dieser Lage tun sollte. Der einzige Schutz vor der Pest war Flucht, aber sie rettete nur den, der noch nicht infiziert war. Eine Flucht mit Kranken wie Rosemund und Eliwys konnte nur ins Verderben führen.
Aber Rosemund wurde mit jedem Tag kräftiger, dachte Kivrin, und Eliwys schien nicht die Pest zu haben, sondern nur ein Fieber. Vielleicht die Grippe. Und wenn die Familie noch einen anderen Landsitz hatte, womöglich im Norden, könnten sie dorthin gehen.
Die Pest war noch nicht in Yorkshire. Sie könnte darauf achten, daß sie auf Distanz zu den anderen Leuten auf den Straßen blieben, daß sie nicht angesteckt wurden.
Sie fragte Rosemund, ob sie einen Landsitz in Yorkshire hätten. Rosemund schüttelte den Kopf. Sie saß an eine der Bänke gelehnt. »In Dorset«, sagte sie, aber das war nutzlos. Die Pest war bereits dort. Und Rosemund war trotz der leichten Besserung ihres Zustandes noch immer zu schwach, um länger als ein paar Minuten aufrecht zu sitzen. Sie konnte auf keinen Fall ein Pferd reiten, und Pferde waren ohnedies keine mehr da.
»Mein Vater hatte auch ein Haus in Surrey«, sagte Rosemund. »Dort waren wir, als Agnes geboren wurde.« Sie richtete den Blick auf Kivrin. »Ist Agnes gestorben?«
»Ja.«
Sie nickte, als sei sie nicht überrascht. »Ich hörte sie schreien.«
Kivrin wußte darauf nichts zu sagen.
»Mein Vater ist auch tot, nicht wahr?«
Darauf gab es auch nichts zu sagen. Er war mit hoher Wahrscheinlichkeit tot, und Gawyn auch. Acht Tage waren vergangen, seit er nach Bath aufgebrochen war. Eliwys, immer noch fiebernd, hatte am Morgen gesagt: »Nun, da der Sturm vorbei ist, wird er kommen«, aber sie schien es selbst nicht zu glauben.
»Er kann noch immer kommen«, sagte Kivrin. »Der Schnee wird ihn aufgehalten haben.«
Der Verwalter kam herein, stellte seinen Spaten im Durchgang ab und kam in den Herdraum. Er war jeden Tag hereingekommen, um seinen Sohn zu sehen, aber jetzt warf er ihm nur einen kurzen Blick zu, dann wandte er sich und starrte Kivrin und Rosemund an.
Seine Mütze und die Schultern waren schneebedeckt, und Kivrin sah Erde und Schnee am Spatenblatt haften. Er hatte ein weiteres Grab ausgehoben. Wessen?
»Ist jemand gestorben?« fragte sie.
»Nein«, sagte er und fuhr fort, Rosemund anzustarren.
Kivrin stand auf. »Gibt es noch etwas?«
Er sah sie leer an, als könne er die Frage nicht verstehen, dann ging sein Blick zurück zu Rosemund. »Nein«, sagte er, machte kehrt, nahm den Spaten und ging wieder hinaus.
»Geht er Agnes’ Grab ausschaufeln?« fragte Rosemund.
»Nein«, sagte Kivrin sanft. »Sie hat schon ihren Platz auf dem Friedhof.«
»Geht er dann, mein Grab zu schaufeln?«
»Nein, nein«, erwiderte Kivrin. »Du wirst nicht sterben. Dir geht es besser. Du warst sehr krank, aber das Schlimmste ist vorüber. Nun mußt du ruhen, viel essen und schlafen, damit du ganz gesund wirst.«
Rosemund streckte sich gehorsam aus und schloß die Augen, doch nach einer Minute öffnete sie sie wieder. »Wenn mein Vater tot ist, wird die Krone über meine Mitgift verfügen«, sagte sie. »Glaubst du, daß Sir Bloet noch lebt?«
Ich hoffe nicht, dachte Kivrin. Armes Kind, hat sie sich die ganze Zeit wegen ihrer Ehe gesorgt? Armes kleines Mädchen. Sein Tod wäre das einzige Gute, was bei der Epidemie herauskäme. »Du mußt dich jetzt nicht um ihn sorgen. Du mußt ausruhen und wieder zu Kräften kommen.«
»Manchmal respektiert der König eine vorausgegangene Verlobung«, sagte Rosemund. Ihre dünnen Finger zupften an der Decke. »Wenn beide Parteien einverstanden sind.«
Du brauchst mit nichts einverstanden zu sein, dachte Kivrin. Er ist tot. Der Gesandte des Bischofs und seine Begleiter haben in Courcy alle umgebracht.