»Was hat das zu bedeuten?« fragte sie. »Wessen Gräber sind das?«
Der Verwalter warf eine Schaufelvoll Erde auf den Haufen. Nur die obersten zehn oder fünfzehn Zentimeter waren hartgefroren, die Erde darunter war braun und fett.
»Wer ist gestorben?« fragte sie. »Für wen sind diese drei Gräber?« Die Kuh stieß ihre Schulter mit dem Horn an. Sie entzog sich ihr. »Wer ist gestorben?«
Der Verwalter stieß den Spaten in die Erde und richtete sich auf. In seinen Augen flackerte das Fieber. »Es sind die letzten Tage, Junge«, sagte er, und Kivrin begriff, daß er sie in ihren Jungenkleidern nicht erkannt hatte.
»Ich bin es, Katherine«, sagte sie.
Er blickte wieder auf und nickte. »Es ist das Ende der Zeit«, sagte er. »Wer noch nicht gestorben ist, wird sterben. Wer weiß, ob ich morgen noch die Kraft haben werde, ein Grab auszuheben.« Er beugte sich wieder über seine Schaufel.
Die Kuh versuchte ihren Kopf unter Kivrins Arm zu stecken.
»Geh weg!« sagte sie und gab ihr einen Stoß. Die Kuh zog sich behutsam zurück und wanderte um die Gräber, und Kivrin bemerkte jetzt, daß sie nicht alle von gleicher Größe waren.
Das erste war groß, das zweite aber nicht viel länger als Agnes’ Kindergrab, und das dritte, in dem er stand, schien auch nicht für einen Erwachsenen bestimmt. Sie hatte Rosemund versichert, daß er nicht ihr Grab ausheben würde, aber anscheinend tat er es.
»Das ist nicht richtig«, sagte sie. »Deinem Sohn und Rosemund geht es besser. Und Eliwys ist nur müde und krank vor Kummer. Sie werden nicht sterben.«
Der Verwalter blickte mit ausdrucksloser Miene auf, und ihr kam der Gedanke, daß er bei Rosemund für ihr Grab Maß genommen hatte, als er in den Herdraum gekommen war. »Pater Roche sagt, du seist geschickt worden, um uns zu helfen, aber was kannst du gegen das Ende der Welt ausrichten?« Er stieß wieder die Schaufel in die Erde. »Wir werden diese Gräber brauchen. Alle, alle werden sterben.«
Die Kuh kam von der anderen Seite des Grabes näher, den Kopf gesenkt, daß er auf einer Ebene mit dem des Verwalters war, und muhte ihn an, aber er schien es nicht zu bemerken.
»Sie werden nicht sterben«, sagte sie. »Die Pest tötete nur ein Drittel bis eine Hälfte der Zeitgenossen. Wir haben unsere Quote schon erreicht.«
Er grub weiter, als hörte er nicht, und vielleicht war es besser so, denn Kivrin spürte, daß sie die Fassung verlor und imstande war, plötzlich in Tränen auszubrechen oder unkontrolliertes Zeug zu reden.
In der folgenden Nacht starb Eliwys. Der Verwalter mußte Rosemunds Grab für sie verlängern, und als sie sie gegraben, sah Kivrin, daß er ein weiteres Grab angefangen hatte.
Ich muß sie fortbringen, dachte sie, als sie den Verwalter auf den Spaten gestützt sah, keuchend vor Schwäche, aber wie besessen von der fixen Idee, Gräber zu schaufeln. Sobald er Eliwys’ Grab aufgefüllt hatte, fing er wieder mit dem nächsten an. Ich muß sie fortbringen, bevor sie angesteckt werden.
Denn der Ansteckung konnten sie nicht entgehen. Sie lag überall auf der Lauer, in den Bakterien an ihren Kleidern und im Bettzeug, in der Luft, die sie atmeten. Und wenn sie durch ein Wunder davon nicht angesteckt wurden, würde die Pest im Frühjahr Wiederaufleben und ganz Oxfordshire überziehen, ohne einen Unterschied zwischen Dorfbewohnern und Boten und fahrendem Volk und bischöflichen Gesandten zu machen. Sie konnten nicht hier bleiben.
Schottland, dachte sie, als sie zum Herrenhaus zurückging. Ich könnte sie nach Nordschottland bringen. Dorthin ist die Pest nicht gekommen. Der Sohn des Verwalters könnte auf dem Esel reiten, und für Rosemund würden sie eine Tragbahre machen.
Das Mädchen saß auf dem Strohsack. »Der Junge des Verwalters hat dich gerufen«, sagte sie, als Kivrin hereinkam.
Er hatte blutigen Schleim erbrochen. Sein Strohsack war davon beschmutzt, und als Kivrin ihn säuberte, war er zu schwach, um den Kopf zu heben. Selbst wenn Rosemund reiten könnte, dachte sie verzweifelnd, er konnte es nicht. Sie würden nicht bis zum nächsten Dorf kommen.
In der Nacht dachte sie an das Fuhrwerk, das am Absetzort gewesen war. Vielleicht konnte der Verwalter ihr helfen, den Wagen zu reparieren und zusammenzusetzen, und Rosemund könnte darin liegen. Sie entzündete ein Binsenlicht an der Glut des Herdfeuers und schlüpfte zum Stall hinaus, um sich den Wagen anzusehen. Pater Roches Esel begrüßte ihr Eintreten mit rauhem Geschrei, und sie vernahm ein vielfaches huschendes Rascheln, als sie das rauchende Licht in die Höhe hielt.
Die eingeschlagenen Kisten und die Körbe lagen wie eine Barrikade aufgestapelt vor dem Fuhrwerk, und als sie einen Teil davon weggeräumt hatte, mußte sie erkennen, daß es nicht gehen würde. Das Fuhrwerk war zu groß. Der Esel konnte es nicht ziehen, außerdem fehlte die hölzerne Achse. Irgendein unternehmender Zeitgenosse mußte sie fortgetragen haben, um einen Zaun auszubessern oder Brennholz daraus zu machen. Oder um den eigenen Wagen damit instandzusetzen.
Es war pechschwarze Nacht, als sie auf den Hof hinauskam, und die Sterne standen hell und scharf am Himmel, wie sie es am Weihnachtsabend getan hatten. Sie mußte daran denken, wie Agnes an ihrer Schulter geschlafen hatte, die Messingglocke an ihrem kleinen Handgelenk, und wie von überall die Glockentöne über das Land gehallt hatten.
Sie lag noch lange wach, beschäftigt mit Überlegungen zu einem anderen Plan. Vielleicht ließ sich eine Art Sänfte zum Schleifen machen, die der Esel ziehen konnte, wenn der Schnee nicht zu tief war. Oder vielleicht konnten sie beide Kinder rechts und links wie Traglasten auf dem Esel festmachen und das Gepäck selbst tragen.
Endlich schlief sie ein, und wurde beinahe augenblicklich, wie es ihr vorkam, wieder geweckt. Es war noch dunkel, und Pater Roche beugte sich über sie. Die Glut des sterbenden Herdfeuers leuchtete sein Gesicht von unten an, so daß er aussah wie damals auf der Lichtung, als sie ihn für einen Halsabschneider gehalten hatte, und noch im Halbschlaf streckte sie die Hand aus und legte sie sanft an seine Wange.
»Katherine«, sagte er leise, und sie wurde wach. Es ist Rosemund, dachte sie und wandte den Kopf, aber das Mädchen schlief ruhig, die schmale Hand unter der Wange.
»Was gibt es?« fragte sie. »Seid Ihr krank?«
Er schüttelte den Kopf, öffnete den Mund und schloß ihn wieder.
»Ist jemand gekommen?« fragte sie und krabbelte auf die Füße.
Wieder schüttelte er den Kopf.
Wer sollte krank geworden sein? Es war kaum noch jemand übrig. Sie blickte zu den Decken bei der Tür, wo der Verwalter schlief, aber er war nicht da. »Ist der Verwalter zusammengebrochen?«
»Der Junge des Verwalters ist tot«, sagte er in einem seltsamen, benommenen Ton, und sie sah, daß auch der Junge von seinem Strohsack verschwunden war. »Ich ging zur Kirche, um das Stundengebet zu sprechen«, sagte Pater Roche, und seine Stimme versagte. »Ihr müßt mit mir kommen«, fügte er hinzu, richtete sich auf und ging hinaus.
Kivrin hob ihre zerlumpte Decke auf, legte sie sich um die Schultern und eilte ihm nach auf den Hof.
Es konnte nicht später als sechs sein. Die erste Ahnung des kommenden Tages lag als eine dunkelgraue, schwache Aufhellung am Osthorizont, dessen Konturen eben sichtbar waren. Pater Roche verschwand bereits in der Zufahrt zum Dorfanger. Kivrin beschleunigte ihre Schritte und lief ihm nach.
Die Kuh des Verwalters war wieder in der Scheuneneinfahrt und zog das Heu aus dem im Herbst eingelagerten großen Haufen hinter der hüfthohen seitlichen Trennwand. Als sie Kivrin sah, hob sie den Kopf und muhte.
»Bleib, wo du bist!« sagte Kivrin und klatschte in die Hände, aber sie muhte wieder und kam aus der Einfahrt.
»Ich habe keine Zeit, dich zu melken«, sagte sie und lief weiter.