Kivrin brachte die Altarleuchter mit den Kerzen und nahm die Lichter vom Chorgitter und stellte sie alle vor der Katharinenstatue auf. Als seine Fieberphantasien über die Dunkelheit noch zunahmen, zündete sie alle an und deckte ihn wieder zu, und es schien ein wenig zu helfen. Sein Fieber stieg, und trotz der Felle und Decken, in die er dick eingehüllt war, klapperte er hörbar mit den Zähnen. Es schien Kivrin, daß seine Haut bereits dunkel von Blutergüssen wurde, und sie betete wieder: Tue ihm dies nicht an, bitte, lieber Gott, verschone ihn!
Am Morgen fühlte er sich besser. Seine Haut war doch nicht schwarz geworden, es war nur das ungewisse Licht der Kerzen gewesen, das den Anschein fleckiger Blutergüsse hervorgerufen hatte. Sein Fieber war ein wenig gesunken, und er schlief ruhig und ohne zu erbrechen bis in den Nachmittag. Sie ging fort, mehr Wasser zu holen, bevor es dunkel wurde.
Manche Menschen erholten sich spontan, und manche wurden durch Gebete gerettet. Nicht alle, die infiziert waren, starben an der Pest. Die Todesrate betrug bei Lungenpest nur neunzig Prozent.
Als sie zurückkehrte, lag er wach. Sie kniete bei ihm nieder, hob seinen Kopf an und hielt ihm einen Becher Wasser an die Lippen, daß er trinken konnte.
»Es ist die Blaukrankheit«, sagte er, als sie seinen Kopf zurücksinken ließ.
»Ihr werdet nicht sterben«, sagte sie. Zehn Prozent der Erkrankten überlebten. Zehn Prozent.
»Ihr müßt mir die Beichte abnehmen.«
Nein, er durfte nicht sterben. Sie würde ganz allein hier zurückblieben. Unfähig zu sprechen, schüttelte sie den Kopf.
»Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt«, begann er auf Latein.
Er hatte nicht gesündigt. Er hatte ohne Rücksicht auf sich selbst die Kranken gepflegt, den Sterbenden die letzte Ölung gespendet, die Toten begraben. Gott war es, der ihn um Vergebung bitten sollte.
»…in Gedanken, Worten, Taten und Unterlassungen. Ich war zornig auf Imeyne. Ich war ungeduldig und schrie Maisry an.« Er schluckte. »Ich hatte fleischliche Gedanken an eine Heilige des Herrn.«
Fleischliche Gedanken.
»Ich erbitte demütig deine Verzeihung und Lossprechung, Vater, wenn du mich für würdig hältst.«
Es gibt nichts zu vergeben, wollte sie ihm sagen. Deine Sünden sind keine Sünden. Fleischliche Gedanken. Wir bändigten einen in Raserei verfallenen Kranken, trieben einen müden und hungrigen Jungen aus dem Dorf, pflegten Sterbende und begruben die Toten. Es ist das Ende der Welt. Sicherlich sind dir ein paar fleischliche Gedanken erlaubt.
Hilflos hob sie die Hand, unfähig, die Worte der Absolution zu sprechen, aber er schien es nicht zu bemerken. »Ach, mein Gott«, sagte er, »ich bin von Herzen traurig, daß ich Dich beleidigt habe.«
Dich beleidigt. Du bist der Heilige des Herrn, wollte sie ihm sagen, und wo, zum Teufel, ist Er? Warum kommt Er nicht und rettet dich?
Es war kein geweihtes Öl mehr vorhanden. Sie tauchte die Finger in den Eimer und machte das Kreuzzeichen über seinen Augen und Ohren, über Nase und Mund und über den Händen, die ihre Hand gehalten hatte, als sie dem Tode nahe gewesen war.
»Quid quid deliquiste«, sagte er, und sie tauchte wieder die Hand ins Wasser und machte das Kreuzzeichen auf seine Fußsohlen.
»Libera nos, quaesumus domine«, betete er.
»Ab omnibus malis«, sagte Kivrin, »praeteritis, praesentibus et futuris.« Erlöse uns, wir bitten Dich, o Herr, von allem Übel, vergangenem, gegenwärtigem und kommendem.
»Perducat te ad vitam aeternam«, murmelte er.
Und führe dich zum ewigen Leben. »Amen«, sagte Kivrin und beugte sich schnell über ihn, das Blut aufzufangen, das sich aus ihm ergoß.
Den Rest der Nacht und den folgenden Tag erbrach er in Abständen noch mehrmals Blut und Schleim, bis er am Nachmittag in Bewußtlosigkeit sank. Sein Atem ging hechelnd und unregelmäßig. Kivrin saß neben ihm und legte ihm kalte Umschläge auf die erhitzte Stirn. »Du darfst nicht sterben«, sagte sie, als sein Atem stockte und mühsamer wieder in Gang kam. »Du darfst nicht sterben«, wiederholte sie leise. »Was werde ich ohne dich tun? Ich werde ganz allein sein.«
»Du mußt nicht hierbleiben«, sagte er unerwartet. Er öffnete die Augen ein wenig. Sie waren blutunterlaufen und geschwollen.
»Ich dachte… ich dachte, du schliefest«, sagte sie mit Bedauern. »Ich wollte dich nicht wecken.«
»Du mußt wieder zum Himmel auffahren«, sagte er, »und für meine Seele im Fegefeuer beten, daß meine Zeit dort kurz sein möge.«
Fegefeuer. Als ob Gott ihn noch länger leiden lassen würde, als er schon gelitten hatte.
Sie drückte ihm die Hand. »Du wirst meiner Gebete nicht bedürfen.«
»Du mußt zu dieser Stelle zurückkehren, von der du kamst«, sagte er angestrengt, und seine Hand machte eine unbestimmte Bewegung vor seinem Gesicht, als versuchte er einen Schlag abzuwehren.
Kivrin ergriff seine Hand und hielt sie wieder, aber behutsam, um keine Blutergüsse auszulösen, und legte sie an ihre Wange.
Sie müsse zu der Stelle zurückkehren, von der sie gekommen war. Ich wollte, ich könnte es, dachte sie. Wie lange mochten sie das Netz offengehalten haben, bevor sie aufgegeben hatten? Vier Tage? Eine Woche? Vielleicht war es noch offen. Mr. Dunworthy würde niemals zulassen, daß sie es schlossen, solange noch ein Rest Hoffnung blieb. Aber es gibt keine Hoffnung, dachte sie. Ich bin nicht im Jahr 1320. Ich bin hier in den Jahren des Schwarzen Todes, in der Zeit des Untergangs.
»Ich kann nicht«, sagte sie. »Ich weiß den Weg nicht.«
»Du mußt versuchen, dich zu erinnern«, sagte Pater Roche, machte seine Hand los und wedelte damit ins Leere. »Jenseits der Gabel.«
Kivrin erhob sich auf die Knie, um bereit zu sein, wenn er unruhig wurde und sich aufzurichten versuchte, um zu erbrechen.
»Wo du fielst«, sagte er und stützte die in der Luft wedelnde Hand, indem er die andere Hand unter den Ellbogen legte, und Kivrin merkte, daß er den Weg weisen wollte. »Jenseits der Gabel.«
Er meinte die Weggabelung.
»Was ist jenseits der Gabel?« fragte sie.
»Der Ort, wo ich dich zuerst fand, als du vom Himmel fielst «, sagte er und ließ die Arme sinken.
»Ich dachte, Gawyn hätte mich gefunden.«
»Ja«, sagte er, als sähe er keinen Widerspruch darin, »ich traf ihn auf dem Weg, als ich dich zum Herrenhaus brachte.«
Er hatte ihn unterwegs getroffen!
»Die Stelle, wo Agnes fiel«, sagte er, um ihrer Erinnerung aufzuhelfen. »An dem Tag, als wir die Stechpalmenzweige suchten.«
Warum sagtest du es mir nicht, als wir dort waren? dachte Kivrin, aber sie wußte die Antwort. Er hatte mit dem Esel alle Hände voll zu tun gehabt, der auf der Anhöhe stehengeblieben und nicht zum Weitergehen zu bewegen war.
Nun wurde ihr auch klar, warum der Esel störrisch geworden war. Weil er sie hatte durchkommen sehen und von der Lichterscheinung und dem Glitzern der Kondensation erschreckt worden war. Er hatte sich erinnert und eine Wiederholung befürchtet. Und Pater Roche hatte auf der Lichtung über ihr gestanden und sie angesehen, als sie dagelegen hatte, einen Arm über dem Gesicht. Ich hörte ihn, dachte sie. Ich sah seinen Fußabdruck.
»Du mußt zu der Stelle zurückkehren, und von dort wieder zum Himmel«, sagte er und schloß die Augen.
Er hatte sie durchkommen sehen, war gekommen und hatte vor ihr gestanden, als sie mit geschlossenen Augen dagelegen hatte, und später war er wiedergekommen, hatte sie krank vorgefunden und auf seinen Esel geladen. Und sie war nie auf den Gedanken gekommen, nicht einmal, als sie ihn in der Kirche gesehen hatte, nicht einmal, als Agnes ihr erzählt habe, er glaube, daß sie eine Heilige sei.