»Nein«, sagte sie, ließ sich wieder auf die Knie sinken. »Nein. Du hast mir keine Schmerzen zugefügt.« Sie wischte ihm den Mund mit dem ledernen Ärmel ihres Wamses.
»Du mußt«, sagte er, und als er den Mund öffnete, kam mehr Blut heraus. Er schluckte. »Du mußt die Sterbegebete sprechen.«
»Du wirst nicht sterben.« Wieder wischte sie ihm Mund und Kinn. »Aber ich muß die Beule aufschneiden, bevor sie platzt.«
»Tu es nicht«, sagte er, und sie wußte nicht, ob er meinte, sie solle die Pestbeule nicht aufschneiden oder nicht gehen. Er biß die Zähne zusammen, daß sie knirschten, und Blut sickerte zwischen ihnen hervor. Sie ließ sich vorsichtig auf die Fersen zurücksinken und nahm seinen Kopf auf den Schoß.
»Requiem aeternam dona eis«, sagte er mit gurgelnder Stimme, »et lux perpetua lucent eis.«
Sie stützte seinen Kopf höher ab, indem sie eine zusammengelegte Decke unterschob, wischte ihm wieder Mund und Kinn mit dem mittlerweile blutgetränkten Streifen vom Altartuch. »Tu es nicht«, sagte er.
»Gut«, sagte sie. »Ich bleibe bei dir.«
»Bete für mich«, sagte er und versuchte die Hände vor der Brust zu falten. »Requ…« Seine Stimme erstickte in einem Gurgeln.
»Requiem aeternam«, sagte Kivrin. Sie faltete die Hände. »Requiem aeternam dona eis, Domine.«
»Et lux…«, sagte er.
Die Kerze neben Kivrin erlosch, und der Duft von verbranntem Wachs breitete sich aus. Auch die anderen Lichter waren bis auf eine von Imeynes Wachskerzen ausgegangen, und auch diese war beinahe heruntergebrannt.
»Et lux perpetua…«, sagte Kivrin.
»… lucent eis«, sagte Pater Roche. Er hielt inne und versuchte sich die blutigen Lippen zu befeuchten. Seine Zunge war geschwollen und steif. »Requiescat in pace.« Er schluckte wieder und schloß die Augen.
»Amen«, sagte sie. »Laß ihn nicht noch mehr leiden«, setzte sie flüsternd hinzu. »Bitte. Es ist nicht gerecht.«
»Anima ejus et animae omnium fidelium defunctorum per misericordian Dei requiscant in pace«, murmelte er angestrengt.
»Amen.« Sie machte für ihn das Kreuzzeichen.
»In den letzten Tagen…«, sagte er undeutlich, behindert durch die geschwollene Zunge.
Sie beugte sich näher.
»…fürchtete ich, daß Gott uns ganz verlassen würde.«
Und das hat Er getan, dachte sie. Sie wischte ihm Mund und Kinn mit dem Zipfel ihres Wamses. Das hat Er getan.
Er schluckte wieder. »Aber in Seiner großen Barmherzigkeit hat Er es nicht getan, sondern sandte Seine Heilige zu uns.«
Er hob den Kopf und hustete, und ein Blutsturz übergoß seine Brust und ihre Knie. Unfähig, den Blutfluß aufzuhalten, hielt sie ihm verzweifelt den Kopf hoch und bemühte sich, das Blut wegzuwischen, konnte aber durch ihre Tränen kaum sehen, was sie tat. »Und ich bin keine Hilfe«, schluchzte sie.
»Warum weinst du?« fragte er.
»Du hast mir das Leben gerettet«, antwortete sie mit tränenerstickter Stimme, »und ich kann das deine nicht retten.«
»Alle Menschen müssen sterben«, sagte Pater Roche, »und niemand, nicht einmal Christus, kann sie retten.«
»Ich weiß.« Die Tränen liefen ihr über die Wangen und tropften in sein Haar.
»Und doch hast du mich gerettet«, sagte er, und seine Stimme klang momentan klarer. »Vor Furcht und Unglauben.« Er tat einen rasselnden Atemzug.
Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen und ergriff Pater Roches Rechte. Sie fühlte sich kalt und schon steif an.
»Ich bin gesegnet vor allen Menschen, dich hier zu haben«, sagte er leise und schloß die Augen.
Kivrin wagte ihre Stellung nicht zu verändern, weil sie befürchten mußte, einen neuerlichen Blutsturz auszulösen. Draußen war es dunkel geworden, und durch die schmalen Fenster drang kein Lichtschein mehr herein. Frau Imeynes Kerze flackerte und brannte wieder ruhig. Sie bewegte Pater Roches Kopf ein wenig, daß er nicht an ihre Rippen stieß, und er stöhnte, und seine Hand zuckte, wie um sich aus ihrer zu befreien, aber sie hielt fest. Die Kerzenflamme leuchtete in plötzlicher Helligkeit auf, erlosch und ließ sie in Dunkelheit versinken.
Ich glaube nicht, daß ich die Rückkehr schaffen werde, Mr. Dunworthy. Pater Roche sagte mir, wo der Absetzort ist, aber ich habe ein paar Rippen gebrochen, glaube ich, und alle Pferde sind fort, und ich sehe nicht, wie ich ohne Sattel und Steigbügel auf Peter Roches Esel steigen könnte.
Ich werde versuchen, dafür zu sorgen, daß Mrs. Montoya diese Aufzeichnungen findet. Sagen Sie Mr. Latimer, daß die adjektivische Beugung um 1348 noch vorherrschte. Und sagen Sie Mr. Gilchrist, daß er irrte. Die Statistiken waren nicht übertrieben.
Ich möchte nicht, daß Sie sich dieser Geschehnisse wegen Vorwürfe machen. Ich weiß, daß Sie gekommen wären, mich zu holen, wenn Sie eine Möglichkeit dazu gesehen hätten, aber ich hätte ohnedies nicht gehen können, jedenfalls nicht solange Agnes und Rosemund krank waren.
Ich wollte in diese Zeit, und wenn ich nicht gekommen wäre, würden sie ganz allein gewesen sein, und niemand würde je erfahren, wie mutig und unersetzlich diese Menschen bei all ihrer Furcht und Unwissenheit waren.
Es ist seltsam. Als ich den Absetzort nicht finden konnte und die Pest kam, schienen Sie so weit entfernt, als würde es niemals möglich sein, Sie wiederzufinden. Aber ich weiß jetzt, daß Sie die ganze Zeit hier waren, und daß nichts, nicht einmal die Pest oder siebenhundert Jahre oder der Tod oder kommende Dinge oder irgendein anderes Lebewesen mich jemals von Ihrer Fürsorge trennen könnte. Sie war jede Minute in mir.
34
»Colin!« stieß Dunworthy hervor, und mit schnellem Zugriff erwischte er Colins Arm, als der Junge geduckt durch die Abschirmung und in das Netz sprang. »Was, in Gottes Namen, soll das bedeuten?«
Colin entwand sich seinem Griff. »Ich glaube, daß Sie nicht allein gehen sollten!«
»Du kannst nicht einfach das Netz durchbrechen! Dies ist keine Quarantäneabsperrung. Wie, wenn das Netz sich geöffnet hätte? Du hättest dabei umkommen können!« Er faßte wieder nach Colins Arm und wandte sich zur Konsole. »Badri! Halten Sie an!«
Badri war nicht da. Dunworthy blinzelte kurzsichtig in die Richtung, wo die Konsole gewesen war. Sie waren in einem Wald, umgeben von Bäumen. Schnee lag auf dem Boden, und die Luft funkelte von Kristallen.
»Wer wird sich um Sie kümmern, wenn Sie allein gehen?« sagte Colin. »Was wollen Sie machen, wenn Sie einen Rückfall haben?« Er sah an Dunworthy vorbei, und sein Mund klappte auf. »Sind wir da?«
Dunworthy ließ Colins Arm los und suchte in seinem Rock nach der Brille. »Badri!« rief er. »Öffnen Sie das Netz!« Er setzte die Brille auf, aber die Gläser waren mit Frost bedeckt. Er riß die Brille wieder herunter und schabte an den Linsen. »Badri!«
»Wo sind wir?« fragte Colin.
Dunworthy hakte die Brille über die Ohren und hielt Umschau. Ringsum standen mächtige alte Bäume, der Efeu, der ihre Stämme umkleidete, hatte vom Rauhreif versilberte Blätter. Von Kivrin war nichts zu sehen.
Er hatte erwartet, daß sie hier sein würde, was absolut lächerlich war. Sie hatten bei den Proben bereits das Netz geöffnet und sie nicht gefunden, doch hatte er gehofft, daß sie zum Absetzort zurückkommen und warten würde, wenn sie begriff, wo sie war. Aber sie war nicht hier, und nichts deutete darauf hin, daß sie jemals hier gewesen war.