Der Schnee, in dem sie standen, war weich und glatt und frei von Fußabdrücken. Außerdem war er tief genug, um alle Spuren auszutilgen, die sie vor dem Schneefall zurückgelassen haben mochte, aber er war nicht tief genug, um den zerschlagenen Wagen und die umhergestreuten Kisten und Körbe zu verbergen. Und von der Straße von Oxford nach Bath war keine Spur zu sehen.
»Ich weiß nicht, wo wir sind«, sagte er.
»Nun, ich weiß, daß es nicht Oxford ist«, sagte Colin und stapfte im Schnee herum. »Weil es nicht regnet.«
Dunworthy blickte durch das schneebeladene Geäst zum blassen, klaren Himmel auf. Wenn es die gleiche Verschiebung wie in Kivrins Absetzoperation gegeben hatte, würde es Vormittag sein.
Colin stampfte durch den Schnee davon auf ein Dickicht rötlicher Weiden zu.
»Wohin gehst du?«
»Eine Straße suchen. Der Absetzort soll an einer Straße sein, nicht?« Er arbeitete sich in das Dickicht und verschwand.
»Colin!« rief er und setzte sich in Bewegung. »Komm hierher zurück!«
»Da ist sie schon!« rief Colin von irgendwo jenseits des Weidendickichts. »Da ist die Straße!«
»Komm zurück hierher!« rief Dunworthy.
Colin kam wieder zum Vorschein, bog die Weidenzweige auseinander.
»Komm her«, sagte er in ruhigerem Ton.
»Die Straße führt eine Anhöhe hinauf«, sagte er, als er wieder auf die Lichtung herauskam. »Wir können hinaufgehen und sehen, wo wir sind.«
Sein brauner Rock war bereits mit herabgefallenem Schnee von den Weiden bedeckt, und er sah wachsam aus, auf schlechte Nachrichten gefaßt.
»Sie wollen mich zurückschicken, nicht wahr?«
»Ich muß«, sagte Dunworthy, aber bei der Aussicht darauf verließ ihn der Mut. Badri würde das Netz erst in zwei Stunden wieder öffnen, und er war nicht sicher, wie lange es offen bleiben würde. Er hatte nicht zwei Stunden Zeit, um hier zu warten und Colin durchzuschicken, und er konnte ihn nicht zurücklassen. »Du bist in meiner Verantwortung.«
»Und Sie in meiner«, erwiderte Colin eigensinnig. »Großtante Mary sagte mir, ich solle mich um Sie kümmern. Was soll geschehen, wenn Sie einen Rückfall haben und allein sind?«
»Du verstehst nicht. Der Schwarze Tod…«
»Das ist kein Problem. Wirklich nicht. Ich habe das Tetracyclin und das Gammaglobulin und alles bekommen. William hat seine Krankenschwester dazu überredet, und sie hat es mir gegeben. Sie können mich jetzt nicht zurückschicken, das Netz ist nicht offen, und außerdem ist es zu kalt, um zwei Stunden hier herumzustehen und zu warten. Sie würden garantiert einen Rückfall erleiden. Wenn wir uns jetzt auf die Suche nach Kivrin machen, könnten wir sie bis dahin schon gefunden haben.«
Er hatte insoweit recht, als sie nicht hier bleiben und warten konnten. Die Kälte drang bereits durch den weiten viktorianischen Umhang, und Colins Rock aus Sackleinwand bot noch weniger Schutz als seine grüne Jacke und war bereits voll Schnee.
»Wir werden auf die Anhöhe gehen«, sagte er, »aber zuerst müssen wir die Lichtung so markieren, daß wir sie wiederfinden können. Und du kannst nicht einfach losrennen. Ich wünsche, daß du zu allen Zeiten in Sichtweite bleibst. Ich habe nicht die Zeit, auch noch auf die Suche nach dir zu gehen.«
»Ich werde nicht verlorengehen«, sagte Colin. Er hatte sein Bündel aufgeschnürt, suchte darin herum und hielt ein flaches Rechteck in die Höhe. »Ich habe ein Ortungsgerät mitgebracht. Es muß nur noch auf diese Lichtung eingestellt werden.«
Nachdem er das getan hatte, ging er voraus, hielt Dunworthy die Weidenzweige auseinander, und sie kamen auf die Straße. Sie war allenfalls ein Ziehweg und mit frischem Schnee bedeckt, der keinerlei Spuren außer den Fährten von Eichhörnchen, Hasen und einem Hund oder vielleicht einem Wolf zeigte. Colin hielt sich gehorsam an Dunworthys Seite, bis sie die Anhöhe halb erstiegen hatten, dann konnte er sich nicht länger beherrschen und rannte voraus.
Dunworthy stapfte schnaufend hinterdrein. Die unangenehme Beengung der Brust hatte sich wieder eingestellt, und er tat sein Möglichstes, sie nicht zu beachten. Ein Stück unter der Anhöhe hörte der Wald auf, und wo die freien Rächen begannen, wehte ein beißend kalter Wind.
»Ich sehe das Dorf!« rief Colin zu ihm herunter.
Er kam zu dem Jungen und blieb schweratmend stehen. Der Wind war hier noch schlimmer, blies durch den gefütterten Umhang, als wäre er aus Seidenpapier, und trieb langgezogene Schichtwolken über den blassen Himmel. Weit im Süden stieg eine Rauchfahne auf, wurde in einiger Höhe vom Wind erfaßt und bog scharf nach Osten um.
»Sehen Sie?« Colin streckte den Arm aus.
Eine leicht gewellte Ebene lag unter ihnen, in gleißenden Schnee gehüllt, der das Auge blendete. Die kahlen Bäume hoben sich schwarz ab, und wo sie Reihen bildeten, ließen sich Fahrwege oder Straßen vermuten. Die da und dort unterbrochenen Baumreihen einer Allee markierten auch die Straße von Oxford nach Bath, welche die verschneite Ebene in gerader Linie durchzog. Zwischen verstreuten Ansammlungen von Bäumen und Büschen zeichneten sich die eckigen Umrisse schneebedeckter Strohdächer ab, und am Horizont lag die Stadt Oxford wie eine Bleistiftzeichnung. Über den dunklen Mauern konnte er die weißen Dächer und den klotzigen Turm von St. Michael erkennen. Vollkommene Stille lag über dem Land, unterbrochen nur vom leisen Sausen des Windes, das sich in Abständen zu bösartigem Fauchen verstärkte.
»Sieht nicht so aus, als ob der Schwarze Tod schon hier wäre, nicht?« sagte Colin.
Er hatte recht. Das Land ums alte Oxford lag ruhig und heiter vor ihnen. Es war unmöglich, sich dieses Land von der Pest entvölkert vorzustellen, mit Karren voller hochgetürmter Leichen, die durch die engen Straßen gezogen wurden, die Universität verlassen und mit Brettern vernagelt, und überall die Sterbenden und die Toten. Und genauso unmöglich war es, sich Kivrin irgendwo dort draußen vorzustellen, in einem dieser Dörfer, die man mehr ahnen als sehen konnte.
»Schauen Sie, dort«, sagte Colin, den Arm nach Süden gestreckt. »Hinter den Bäumen dort.«
Er kniff die Augen zusammen und versuchte die Umrisse von Gebäuden zwischen den dichtgedrängten Bäumen auszumachen. Dort war ein dunklerer Umriß hinter den schneebedeckten Ästen, der Turm einer Kirche, vielleicht, oder der Klotz eines burgähnlichen Gutshauses.
»Da ist die Straße, die hinführt«, sagte Colin und zeigte zu einer schmalen, weißgrauen Linie, die irgendwo unter ihnen begann.
Dunworthy zog die Karte zu Rate, die Montoya ihm gegeben hatte. Es war nicht zu bestimmen, welches Dorf es war, nicht einmal anhand ihrer Skizze, solange sie nicht wußten, wie weit sie vom geplanten Absetzort entfernt waren. Wenn sie sich südlich davon befanden, lag das Dorf zu weit Östlich, um Skendgate zu sein, aber wo er dachte, daß es sein sollte, waren keine Bäume, nichts, nur eine ebene Schneefläche.
»Na?« fragte Colin. »Gehen wir hin?«
Es war das einzige Dorf im näheren Umkreis, wenn es ein Dorf war, und es schien nicht weiter als einen Kilometer entfernt zu sein. Wenn es nicht Skendgate war, so lag es doch in der etwa passenden Richtung, und wenn es eines oder mehrere von Montoyas »charakteristischen Merkmalen« aufwies, konnten sie es benutzen, um sich zu orientieren.
»Du mußt immer und unter allen Umständen bei mir bleiben und darfst mit niemandem sprechen, hast du verstanden?«
Colin nickte, hatte offensichtlich nicht zugehört. »Ich glaube, die Straße ist in der Richtung«, sagte er und rannte die andere Seite der Anhöhe hinunter.
Dunworthy folgte ihm. Er versuchte, nicht daran zu denken, wie viele Dörfer es gab, wie wenig Zeit er hatte, wie müde er schon nach diesem bescheidenen Stück Weges war.