In kurzer Zeit hatten sie den Fahrweg wieder erreicht. Colin wollte querfeldein der Hecke folgen, aber Dunworthy lenkte das Pferd in die andere Richtung. Nach einem knappen Kilometer gabelte sich die Straße, und er nahm die linke Abzweigung.
Sie war breiter und schien mehr begangen als die erste, doch war der Wald, durch den sie führte, noch undurchdringlicher. Mittlerweile hatte sich der Himmel ganz bezogen, und der zunehmende Wind wurde auch im Schutz der Bäume spürbar; er bewegte die Äste, daß der aufliegende Schnee in Schleiern herabsank.
»Ich sehe es!« sagte Colin und ließ mit einer Hand los, um an einer Gruppe von Eschen vorbei zu grauem Gemäuer und einem nur teilweise mit Schnee bedeckten dunklen Schieferdach vor dem grauen Himmel zu zeigen. Eine Kirche, vielleicht, oder ein Herrensitz. Das Gebäude lag ostwärts von der Straße, und bald zweigte eine schmale Fahrspur ab und führte mittels einer gebrechlichen Plankenbrücke über einen Bach und weiter am Rand eines schmalen Wiesenstreifens entlang.
Der Hengst spitzte weder die Ohren noch versuchte er schneller zu gehen, und aus diesem Verhalten schloß Dunworthy, daß er nicht aus dem Dorf sein konnte. Und das war gut so, denn im Mittelalter pflegte man Pferdediebe kurzerhand aufzuhängen. Wir würden schon am Galgen baumeln, bevor wir fragen könnten, wo Kivrin ist, dachte er. Dann sah er die Schafe.
Sie lagen auf den Seiten, Hügel aus schmutziger graubrauner Wolle, und einige von ihnen hatten sich bei den Bäumen zusammengedrängt und versucht, Schutz vor Wind und Schnee zu finden.
Colin hatte sie nicht gesehen. »Was tun wir, wenn wir hinkommen?« fragte er Dunworthys Rücken. »Schleichen wir uns an, oder reiten wir einfach vor das Haus und fragen jemand, ob sie Kivrin gesehen haben?«
Es wird niemand da sein, den wir fragen könnten, dachte Dunworthy. Er lenkte den Hengst an den Eschen vorbei und in das Dorf.
Es ähnelte nicht den Illustrationen in Colins Buch, wo die Häuser sich um die freie Fläche des freien Dorfangers scharten. Diese hier lagen zerstreut zwischen den Bäumen, jedes durch Hecken und Bäume abgesondert von den anderen und beinahe außer Sicht. Er sah verschneite Strohdächer, und ein Stück weiter, zwischen den Ästen alter Linden, die Kirche, aber hier, auf einer freien Fläche, die nicht größer war als die Lichtung des Absetzortes, standen nur ein Holzhaus und ein niedriger Schuppen.
Es war zu klein, um ein Herrenhaus zu sein — allenfalls die Wohnung des Verwalters, oder des Dorfvorstehers. Die Tür des Schuppens stand offen, und Schnee war hineingeweht. Kein Rauch stieg auf, kein Geräusch störte die Stille des Wintertages.
»Vielleicht sind sie geflohen«, sagte Colin. »Viele Menschen flohen, als sie hörten, daß die Seuche kam. So wurde sie ausgebreitet.«
Vielleicht waren sie geflohen. Der Schnee vor dem Haus war festgetrampelt, als ob viele Menschen und Pferde dagewesen wären.
»Bleib hier beim Pferd«, sagte er, nachdem sie abgesessen waren, gab Colin die Zügel in die Hand und ging zum Holzhaus. Auch hier war die Tür nicht verschlossen, aber beinahe zugezogen. Er drückte sie auf und mußte sich bücken, um durch die niedrige Türöffnung einzutreten.
Im Innern war es eisig, und nach der Helligkeit der Schneelandschaft draußen so finster, daß er außer der rotgefärbten Nachwirkung des zuletzt gesehenen Bildes anfangs nichts erkennen konnte. Er stieß die Tür ganz auf, aber noch immer lag alles in tiefem Halbdunkel und schien verschwommene rote Konturen zu haben.
Es war für die Verhältnisse der Zeit kein ärmliches Haus; vielleicht das Haus des Gutsverwalters. Es bestand aus zwei Räumen mit einer Zwischenwand aus Balken und hatte Strohmatten am Boden. Der Tisch war leer, das Feuer der Herdstelle seit Tagen ausgegangen. Der Geruch von kalter Asche erfüllte den kleinen Raum. Der Bewohner und seine Familie waren geflohen, und vielleicht auch der Rest der Dorfbewohner, und ohne Zweifel hatten sie die Pest mitgenommen. Und Kivrin.
Er lehnte sich an den Türrahmen. Die Beengung in seiner Brust war wieder zum Schmerz geworden. Bei all seinen Sorgen um Kivrin war ihm nie der Gedanke gekommen, daß sie fortgegangen sein könnte.
Er blickte in den anderen Raum. Colin steckte den Kopf zur Tür herein. »Das Pferd will aus einem Eimer trinken, der hier draußen steht. Soll ich es lassen?«
»Ja«, sagte Dunworthy und stellte sich so, daß Colin nicht in den Nebenraum sehen konnte. »Aber laß es nicht zuviel trinken. Es hat seit Tagen kein Wasser gehabt.«
»Es ist nicht allzu viel in dem Eimer.« Er blickte interessiert in den Raum. »Das ist eine der Hütten, wo die Leibeigenen wohnten, nicht wahr? Sie waren wirklich arm. Haben Sie etwas gefunden?«
»Nein. Geh und gibt auf das Pferd acht. Und laß es nicht davonlaufen.«
Colin ging hinaus, nachdem er sich den Kopf am Türsturz gestoßen hatte.
Der Säugling lag auf einem Sack mit Wollabfällen in der Ecke. Er hatte anscheinend noch gelebt, als seine Mutter gestorben war, sie lag auf einer Schilfmatte am nackten Lehmboden und hatte noch im Tod eine Hand zu ihrem Kind ausgestreckt. Beide waren dunkel, beinahe schwarz, und die Windeln des Säuglings waren steif von getrocknetem Blut.
»Mr. Dunworthy!« ertönte Colins aufgeregte Stimme, und er fuhr herum, besorgt, daß der Junge wieder hereingekommen sei, aber er war noch draußen bei dem Hengst, der sein Maul tief in den Holzeimer gesteckt hatte.
»Was ist?« fragte er aus der Türöffnung.
»Da drüben ist etwas am Boden«, sagte Colin und zeigte zu den Hütten. »Ich glaube, es ist ein Toter.« Er zog so hart an den Zügeln, daß der Eimer umgeworfen wurde und ein wenig Wasser im Schnee verlief.
»Warte«, sagte Dunworthy, aber Colin rannte schon hinüber zu den Bäumen. Der Hengst folgte ihm.
»Es ist ein…«, stieß Colin hervor und brach ab. Dunworthy eilte näher, eine Hand gegen seine Seite gedrückt.
Es war der Leichnam eines jungen Mannes. Er lag auf dem Rücken ausgestreckt im Schnee, umgeben von einer gefrorenen Lache schwarzer Flüssigkeit. Sein Gesicht und seine Kleider waren mit Schnee oder Rauhreif überstäubt. Seine Pestbeulen mußten aufgeplatzt sein, dachte Dunworthy und warf Colin einen Seitenblick zu, aber der Junge sah nicht den Toten an, sondern blickte an der Baumreihe vorbei zu einer Wiese, die anscheinend der Dorfanger war. An ihren Rändern stand ein halbes Dutzend Hütten, am anderen Ende die normannische Dorfkirche. Und in der Mitte, auf dem zertrampelten Schnee, lagen die Toten.
Man hatte keinen Versuch unternommen, sie zu begraben, obwohl bei der Kirche ein flacher Graben ausgehoben worden war, neben dem ein Hügel schneebedeckter Erde aufgeschüttet lag. Einige der Toten schien man zum Friedhof geschleift zu haben — es waren lange Schleifspuren im Schnee, die dorthin führten -, und mindestens einer war zur Tür seiner Hütte gekrochen. Er lag halb drinnen, halb draußen. »Fürchtet Gott«, murmelte Dunworthy, »denn die Stunde Seines Gerichts ist gekommen.«
»Es sieht wie nach einer Schlacht aus«, sagte Colin.
Dunworthy nickte.
Colin trat vorwärts, beugte sich über den Toten. »Glauben Sie, daß alle tot sind?«
»Nicht berühren«, sagte Dunworthy. »Geh auch nicht in ihre Nähe.«
»Ich habe das Gammaglobulin und alles«, sagte Colin, aber er trat von den Toten zurück. Dunworthy sah ihn schlucken.
»Tief durchatmen«, sagte er und legte Colin die Hand auf die Schulter. »Und schau nicht hin.«
»In dem Buch stand, daß es so war«, sagte Colin, während er entschlossen eine Eiche anstarrte. »Tatsächlich hatte ich Angst, daß es viel schlimmer sein könnte. Ich meine, es riecht nicht.«