Colin hatte den halb ausgelaufenen Sack außer Reichweite des Pferdes manövriert und ließ ihn neben einer kleinen Truhe liegen. Er richtete sich schnaufend auf und kam an Dunworthys Seite. »Haben Sie wirklich keinen Rückfall?«
»Nein.« Aber er begann schon zu zittern.
»Vielleicht sind Sie bloß müde, haben sich zuviel zugemutet«, sagte Colin. »Ruhen Sie sich aus, ich komme gleich wieder.«
Er ging hinaus und zog die primitive Brettertür zu. Der Hengst fraß den verschütteten Hafer mit geräuschvoll mahlenden Zähnen. Dunworthy stand an den rohen Stützbalken gelehnt und sammelte Kraft, dann ging er zu der kleinen Truhe und bücke sich. Die Messingbeschläge waren angelaufen und das Leder des Deckels hatte eine kleine Kerbe, aber als er den Staub abgewischt hatte, sah er, daß sie ganz neu war.
Er öffnete den Deckel. Der letzte Eigentümer hatte sein Werkzeug darin aufbewahrt. Ein zusammengerolltes Lederseil war darin, der rostige Kopf einer Feldhacke, ein Hammer, geschmiedete Nägel, eine Zange und ein Meißel. Alles war abgenutzt von langem Gebrauch. Der blaue Stoff der Ausfütterung war zerrissen, wo die Hacke an der Innenwand gescheuert hatte. Kein Zweifel, es war die Nachbildung des Kastens aus dem Ashmolean-Museum, von der Gilchrist im Pub gesprochen hatte.
Colin kam wieder herein und schleppte den hölzernen Eimer. »Ich habe Wasser für Sie und das Pferd gebracht«, sagte er. »Ich habe es aus dem Bach geholt.« Er stellte den Eimer ab und suchte in seinen Taschen. »Ich habe nur zehn Aspirin, damit Sie keinen schlimmen Rückfall bekommen können. Ich mußte sie von Mr. Finch stehlen.«
Er brachte ein Arzneifläschchen zum Vorschein und schüttelte zwei Tabletten in seine Hand. »Ich habe auch etwas Synthomycion mitgehen lassen, aber ich fürchte, das war noch nicht erfunden. Ich dachte mir, Aspirin müßten die Leute damals schon gehabt haben.« Er gab Dunworthy die Tabletten und brachte den Eimer. »Sie werden aus der Hand trinken müssen. Die Schüsseln und Becher der Zeitgenossen waren sicherlich voller Pesterreger.«
Dunworthy schluckte die Aspirintabletten und schöpfte eine Handvoll Wasser aus dem Eimer, um sie hinunterzuspülen. »Colin«, sagte er.
Colin trug den Eimer zum Hengst. »Ich glaube nicht, daß dies das richtige Dorf ist. Ich ging in die Kirche, und der einzige Sarkophag darin war von einer Dame.« Er zog die Kartenskizze und das Ortungsgerät aus der Tasche. »Wir sind noch immer zu weit östlich. Ich glaube, wir sind hier…« - er zeigte auf eine von Montoyas Eintragungen -, »also müßten wir zu dieser anderen Straße zurückgehen und dann nach Osten…«
»Wir gehen zurück zum Absetzort«, sagte Dunworthy. Er richtete sich langsam auf, als sei er in Ungewißheit, ob er sich ohne Stütze auf den Beinen würde halten können.
»Warum? Badri sagte, wir hätten mindestens einen Tag, und wir haben erst ein Dorf überprüft. Es gibt mehrere Dörfer in dieser Gegend. Sie könnte in jedem von ihnen sein.«
Dunworthy wartete, bis der Hengst den Kopf aus dem Eimer hob, dann band er ihn los.
»Ich könnte das Pferd nehmen und mich auf die Suche nach ihr machen«, meinte Colin. »Ich könnte schnell reiten und all diese Dörfer durchsuchen und dann zurückkommen und Ihnen Bescheid sagen, sobald ich sie gefunden habe. Oder wir könnten uns die Arbeit teilen, und jeder übernimmt ein paar Dörfer, und wer sie zuerst findet, gibt ein Signal. Zum Beispiel ein Feuer oder was, und dann würde der andere es sehen und kommen.«
»Sie ist tot, Colin. Wir werden sie nicht finden.«
»Sagen Sie das nicht!« widersprach Colin, und seine Stimme klang hoch und dünn. »Sie ist nicht tot! Sie hatte ihre Schutzimpfungen!«
Dunworthy zeigte auf die kleine lederne Truhe. »Das ist das Ding, mit dem sie durchgekommen ist.«
»Na und?« sagte Colin. »Es konnte viele derartige Kästen gegeben haben. Oder sie ließ ihn am Absetzort zurück, als sie fortging, und jemand fand ihn und nahm ihn mit. Wir können nicht zurückgehen und sie einfach hierlassen, ohne Gewißheit zu haben! Angenommen, ich wäre hier und hätte mich verlaufen und wartete und wartete auf jemand, der kommen und mich holen würde, und niemand käme?« Seine Nase fing an zu laufen.
»Colin«, seufzte Dunworthy, »manchmal tut man alles, was man kann, und kann sie trotzdem nicht retten.«
»Wie Großtante Mary«, sagte Colin. Er wischte sich die Tränen mit dem Handrücken. »Aber nicht immer.«
Immer, dachte Dunworthy. »Nein«, sagte er. »Nicht immer.«
»Manchmal kann man sie retten«, sagte Colin hartnäckig.
»Ja. Gut.« Er band den Hengst wieder an. »Wir werden gehen und sie suchen. Gib mir noch zwei Aspirin und laß mich ein bißchen ausruhen, bis sie wirken, dann gehen wir und suchen sie.«
»Apokalyptisch«, sagte Colin. Er entzog den Eimer dem Pferd, das wieder den Kopf hineingesteckt hatte und soff. »Ich gehe frisches Wasser holen.«
Er rannte hinaus, und Dunworthy ließ sich am Stützbalken hinunter, bis er an die Wand gelehnt saß. »Bitte«, sagte er, »bitte laß sie uns finden.«
Die Tür ging langsam auf. Colin stand in der Öffnung und war wie von einem Strahlenkranz umgeben. »Haben Sie es gehört?« fragte er. »Horchen Sie.«
Es war ein leiser, ferner Klang, gedämpft von den Wänden des Schuppens. Und es waren lange Pausen zwischen den Glockenschlägen, aber er konnte sie hören. Er stand auf und ging hinaus.
»Es kommt von dort«, sagte Colin und zeigte nach Südwesten.
»Hol das Pferd heraus!« sagte Dunworthy.
»Sind Sie sicher, daß es Kivrin ist?« fragte Colin. »Es ist die falsche Richtung.«
»Es ist Kivrin«, sagte er.
35
Das Läuten hörte auf, ehe sie noch den Hengst gesattelt hatten. Dunworthy zog den Sattelgurt fest und richtete sich auf. Ihm schwindelte. »Wir müssen uns beeilen!«
»Es ist alles klar«, sagte Colin, den Blick auf der Kartenskizze. »Es läutete dreimal. Ich habe die Richtung fixiert. Es ist genau südwestlich von hier, richtig? Und dies muß Henefelde sein, sehen Sie?« Er hielt Dunworthy die Karte unter die Nase und zeigte abwechselnd auf jeden der beiden Orte. »Also muß es dieses Dorf hier sein.«
Dunworthy betrachtete die Skizze und blickte wieder nach Südwesten, bemüht, die Richtung der Glockenschläge in der Erinnerung festzuhalten. Schon war ihm die genaue Orientierung verlorengegangen, obwohl er die Nachschwingungen der Glockentöne noch in der Luft zu spüren glaubte. Wenn nur das Aspirin bald wirken würde.
»Dann kommen Sie«, sagte Colin. Er nahm den Zügel und zog den Rappen zur Tür des Schuppens und hinaus. »Steigen Sie auf, und wir reiten los!«
Dunworthy steckte einen Fuß in den Steigbügel und schwang das andere Bein über den Sattel. Augenblicklich kehrte das Schwindelgefühl zurück, und er mußte für einen Moment die Augen schließen. Colin blickte forschend zu ihm auf, dann sagte er: »Ich glaube, es ist besser, wenn ich lenke«, und zog sich vor Dunworthy hinauf, der so weit zurückrutschte, wie es ging, so daß der Junge vor ihm im Sattel sitzen konnte.
Colin stieß dem Pferd die Fersen zu sanft in die Flanken und zog zu heftig an den Zügeln, aber der Hengst setzte sich erstaunlich folgsam in Bewegung und ging über den Anger und auf die Dorfstraße.
»Wir wissen, wo das Dorf ist«, sagte Colin voll Zuversicht. »Wir müsse nur noch eine Straße finden, die in diese Richtung führt.« Gleich darauf erklärte er schon, daß sie sie gefunden hätten. Es war ein ziemlich breiter Fahrweg, der einen sanften Abhang hinab und in einen Bestand von Tannen und Buchen führte, aber dort gabelte er sich schon nach wenigen Metern, und Colin sah sich fragend nach Dunworthy um.