Der Hengst zögerte keinen Augenblick. Gleichmütig stapfte er den rechts abzweigenden Fahrweg entlang. »Sehen Sie, er weiß, wohin es geht«, sagte Colin erfreut.
Dunworthy war froh, daß einer von ihnen den Weg wußte. Die um ihn schwankende Landschaft und der pulsierende Kopfschmerz hatten ihn schon kurz nach dem Verlassen des Dorfes gezwungen, die Augen zu schließen. Das Pferd, dem Colin die Zügel locker ließ, ging offensichtlich nach Hause, und Dunworthy war bewußt, daß er Colin das sagen sollte, aber die Krankheit fiel wieder über ihn her, und er scheute sich, Colins Mitte auch nur einen Augenblick loszulassen. Er fror so erbärmlich. Das war natürlich das Fieber, das Pulsieren im Kopf, das Schwindelgefühl, alles das waren Ausdrucksformen des Fiebers, und Fieber war ein gutes Zeichen, weil der Körper seine Abwehrkräfte zur Bekämpfung der Viren aufbot, seine Truppen versammelte. Das Frösteln war nur eine Begleiterscheinung des Fiebers.
»Verdammt, es wird kälter«, sagte Colin. Er zog mit einer Hand seinen Umhang fester. »Hoffentlich schneit es nicht.« Er ließ die Zügel ganz fahren und zog sich den Schal um Mund und Nase. Der Hengst bemerkte es nicht einmal. Er stapfte gleichmäßig durch tiefe Wälder dahin. Sie kamen zu einer zweiten und dann zu einer dritten Weggabelung, und jedesmal konsultierte Colin die Karte und das Ortungsgerät, aber Dunworthy wußte nicht zu sagen, welche Abzweigung er wählte oder ob das Pferd einfach in der Richtung weiterging, wo es sein Zuhause wußte.
Es begann leise zu schneien, oder sie ritten in den Schneefall hinein. Plötzlich segelten überall um sie her kleine weiße Flocken herab, die den Weg undeutlich machten und an seinen Brillengläsern schmolzen.
Allmählich begann das Aspirin zu wirken. Dunworthy saß gerader im Sattel und zog seinen weiten Umhang um sich, wischte mit einem Zipfel die Brillengläser. Seine Finger waren taub und hellrot. Er rieb die Hände aneinander und hauchte hinein. Noch immer waren sie im Wald, und der Weg war schmaler als am Anfang.
»Nach der Kartenskizze ist Skendgate fünf Kilometer von Henefelde entfernt«, sagte Colin. »Und wir sind wenigstens vier Kilometer geritten, also müssen wir gleich dort sein.«
Von einer Ortschaft war jedoch weit und breit nichts zu sehen. Sie waren mitten im Wychwood, auf einer Art Trampelpfad oder gar Wildwechsel, der bei der Hütte eines Köhlers oder einer Salzlecke enden würde, oder auf einer Waldwiese, mit der das Pferd angenehme Erinnerungen verband.
»Sehen Sie, ich sagte es ja«, bemerkte Colin, und dort, hinter den Bäumen, war die Spitze eines Glockenturms zu sehen. Der Weg führte leicht abwärts, und der Hengst begann zu traben. »Halt«, sagte Colin und zog an den Zügeln. »Warte einen Augenblick.«
Dunworthy nahm ihm die Zügel aus der Hand und verlangsamte das Pferd zu einem widerwilligen Schritt, als sie aus dem Wald kamen, vorbei an einer schneebedeckten Wiese, und das Dorf vor sich liegen sahen, halb verdeckt von einer Gruppe hoher Eschen und vom Schneefall verschleiert, so daß sie nur graue Umrisse ausmachen konnten: Herrenhaus, Hütten, Kirche, Glockenturm. Es war nicht das richtige Dorf — Skendgate hatte, so Montoya, keinen Glockenturm -, aber wenn Colin es bemerkt hatte, sagte er nichts. Langsam ritten sie hinunter zum Dorf. Dunworthy hielt die Zügel und hielt angestrengt Ausschau.
Er konnte keine Toten sehen, aber es gab im Dorf auch keine lebenden Bewohner, und kein Rauch stieg von den Hütten auf. Der Glockenturm stand stumm und verlassen, und ringsumher waren keine Fußabdrücke zu sehen.
Auf halbem Weg sagte Colin plötzlich: »Da war eben etwas!« Auch Dunworthy hatte es durch die Tropfen an den Brillengläsern gesehen. Eine Bewegung, die von einem Vogel oder einem von der Schneelast befreiten, emporschnellenden Zweig herrühren mochte. »Da drüben«, sagte Colin und zeigte zu der zweiten Hütte. Zwischen den schneebedeckten Sträuchern und Strohdächern wanderte eine Kuh heraus auf die freie Fläche des Dorfangers, das Euter zum Platzen gefüllt, und Dunworthy fand seine Befürchtung bestätigt, daß die Pest auch hier gewesen war.
»Eine Kuh!« sagte Colin enttäuscht. Sie blickte zu ihnen her und kam ihnen muhend entgegengeschaukelt.
»Wo sind die Leute?« sagte Colin. »Jemand muß die Glocke geläutet haben.«
Sie sind alle tot, dachte Dunworthy. Er blickte zum Friedhof und sah die frischen Gräber mit den Erdhügeln darüber, die der Schnee noch nicht vollständig zugedeckt hatte. Hoffentlich sind sie alle auf diesem Friedhof begraben, dachte er, und dann sah er den ersten Toten. Es war ein Junge, der sitzend an einem Grabstein lehnte, als ob er ausruhte.
»He, da ist jemand«, sagte Colin, zog hart an den Zügeln und zeigte zu der Gestalt. »Hallo!«
Er drehte sich halb herum, um Dunworthy anzusehen. »Werden sie verstehen, was wir sagen? Was meinen Sie?«
»Er ist tot«, sagte Dunworthy.
Aber der Junge stand auf, zog sich mühsam hoch, eine Hand auf den Grabstein gestützt, und blickte umher, als suchte er eine Waffe.
»Wir tun dir nichts«, rief Dunworthy und überlegte nachträglich, wie es auf mittelenglisch heißen würde.
Er ließ sich vom Sattel gleiten, eine Hand am Sattelbogen, um sich des plötzlichen Schwindelgefühls zu erwehren. Dann richtete er sich auf, wandte sich um und streckte die Hand mit erhobener Handfläche dem Jungen entgegen.
Dessen Gesicht war schmutzig, streifig und verschmiert mit Erde und Blut, und sein ledernes Wams und die Beinkleider waren mit klebrigen Krusten von geronnenem Blut und Schmutz überzogen. Er bückte sich und hielt sich die Seite, als ob die Bewegung ihm Schmerzen bereitete, hob einen Stecken auf, der im Schnee gelegen hatte, und kam ein paar Schritte auf sie zu. »Belibet wec vone hiewert. Die blawe siecheit hat unsich anloufen.«
»Kivrin«, sagte Dunworthy und kam auf sie zu.
»Kommen Sie nicht näher«, sagte sie auf englisch und hielt den Stecken wie einen Speer vor sich. Das Ende war unregelmäßig abgebrochen.
»Ich bin es, Kivrin, Mr. Dunworthy«, sagte er und ging weiter auf sie zu.
»Nein!« sagte sie, zurückweichend, hob einen zerbrochenen Spaten auf und stieß mit dem Stiel in seine Richtung. »Sie verstehen nicht. Es ist die Pest.«
»Das ist schon gut, Kivrin. Wir sind geimpft.«
»Geimpft«, sagte sie, als wüßte sie nicht, was das Wort bedeutete. »Es war der Sekretär des Bischofs. Er hatte sie, als sie kamen.«
Colin kam gelaufen, und sie riß den Schaufelstiel wieder hoch.
»Es ist schon gut«, wiederholte Dunworthy. »Das ist Colin. Er ist auch geimpft worden. Wir sind gekommen, Sie heimzuholen.«
Eine lange Minute sah sie ihn ruhig an, während um sie her der Schnee fiel. »Mich heimzuholen«, sagte sie ohne Ausdruck in der Stimme und blickte auf das Grab zu ihren Füßen. Es war kürzer und schmaler als die anderen, ein Kindergrab.
Nach einer Weile blickte sie zu Dunworthy auf, und auch in ihrem Gesicht war kein Ausdruck. Ich bin zu spät gekommen, dachte er verzweifelnd, als er sie in ihrem blutigen Wams dastehen sah, umgeben von Gräbern. Sie haben sie schon gekreuzigt. »Kivrin«, sagte er.
Sie ließ den Schaufelstiel fallen. »Sie müssen mir helfen«, sagte sie und machte kehrt und ging von ihnen fort auf die Kirche zu.
»Ist sie es wirklich?« flüsterte Colin.
»Ja«, sagte er.
»Was ist los mit ihr?«
Ich bin zu spät gekommen, dachte er und legte die Hand auf Colins Schulter, sich zu stützen. Sie wird mir nie vergeben.
»Fehlt Ihnen was?« fragte Colin. »Fühlen Sie sich wieder krank?«
»Nein«, sagte er, wartete aber einen Moment, bevor er seine Hand wegnahm.
Kivrin war bei der Kirchentür stehengeblieben und hielt sich wieder die Seite. Ein Frösteln überlief ihn. Sie hat es, dachte er. Sie hat die Pest. »Sind Sie krank?« fragte er.
»Nein.« Sie nahm die Hand von ihrer Seite und blickte darauf, als erwarte sie, daß sie mit Blut bedeckt sei. »Er trat mich.« Sie versuchte die Kirchentür aufzustoßen, verzog das Gesicht und ließ es Colin tun. »Ich glaube, er brach mir ein paar Rippen.«