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Colin schob die schwere eichene Tür auf, und sie traten ein. Dunworthy schloß einen Moment lang die Augen, um ihnen die Anpassung an die Dunkelheit zu erleichtern. Durch die schmalen Fenster drang kaum Licht ins Innere, obwohl er die wesentlichen Merkmale des Raumes erkennen konnte. Die massigen Säulen mit den romanischen Würfel- und Kelchkapitellen und den Mauerbogen unter den Hochwänden des Mittelschiffes. Und vor der Chorschranke ein wuchtiger rechteckiger Umriß wie ein Klotz, aber dahinter und zu beiden Seiten war es völlig dunkel. Colin wühlte in seinen weiten Taschen.

Weit vorn im Chor klomm die matte Flamme des ewigen Lichts und erhellte nichts als sich selbst. Dunworthy ging langsam durch das Kirchenschiff nach vorn.

»Augenblick«, sagte Colin und schaltete eine Taschenlampe ein. Sie blendete Dunworthy und machte alles außerhalb ihres Lichtkegels so schwarz wie es gewesen war, als sie hereingekommen waren. Colin leuchtete in der Kirche herum, über die bemalten Wände, die schweren Säulen, den unebenen Steinplattenboden. Das Licht fiel auf den Klotz, den Dunworthy nicht hatte deuten können. Es war ein Steinsarkophag.

»Sie ist da oben«, sagte Dunworthy und zeigte zum Altar, und Colin zielte den Lichtkegel in die angegebene Richtung.

Kivrin kniete bei jemandem, der vor der Chorschranke am Boden lag. Es war ein Mann, sah Dunworthy im Näherkommen. Beine und Unterkörper waren mit einer purpurnen Decke zugedeckt, seine großen Hände auf der Brust gefaltet. Kivrin bemühte sich, mit einem Stück Holzkohle eine Kerze anzuzünden, diese aber war zu einem mißgestalteten, halb zerflossenen Wachsklumpen niedergebrannt und ging immer wieder aus. Sie schien dankbar, als Colin mit seiner Taschenlampe herankam. Er richtete den Lichtkegel voll auf sie und den Liegenden.

»Sie müssen mir mit Roche helfen«, sagte sie, ins Licht blinzelnd. Sie beugte sich über den Mann und ergriff seine Hand.

Sie denkt, er sei noch am Leben, dachte Dunworthy, aber sie sagte in dieser tonlosen, selbstverständlichen Stimme: »Er starb heute morgen.«

Die gefalteten Hände waren beinahe so purpurn wie die Decke, aber das Gesicht des Mannes war blaß und völlig friedlich.

»Was war er, ein Ritter?« fragte Colin verwundert.

»Nein«, sagte Kivrin. »Ein Heiliger.«

Sie hatte ihre Hand auf die seinen gelegt. Dunworthy sah, daß sie schwielig und blutig war, die Fingernägel schwarz, die Haut rissig und schrundig. »Sie müssen mir helfen«, sagte sie.

»Womit helfen?« fragte Colin.

Dunworthy begriff, daß sie ihre Hilfe bei der Beerdigung des Toten wünschte, aber dazu sah er sich nicht imstande. Der Mann, den sie Roche genannt hatte, war vielleicht nicht mehr als mittelgroß, obwohl die Größe eines Liegenden schlecht einzuschätzen war, aber ungemein breit und kräftig gebaut. Selbst wenn sie ein Grab ausschaufeln konnten, würden sie ihn zu dritt nicht tragen können, und Kivrin würde niemals zulassen, daß sie ihm einen Strick um den Hals knoteten und ihn auf den Friedhof hinausschleiften.

»Womit helfen?« wiederholte Colin. »Wir haben nicht viel Zeit.«

Sie hatten überhaupt keine Zeit. Es war inzwischen Spätnachmittag, und nach Dunkelwerden würden sie niemals den Weg durch den Wald finden. Außerdem war schwer zu sagen, wie lang Badri die alle zwei Stunden wiederholte Öffnung des Netzes aufrechterhalten konnte. Zwar hatte er von vierundzwanzig Stunden gesprochen, dabei aber nicht kräftig genug ausgesehen, um ihrer zwei zu überdauern. Und annähernd acht Stunden waren bereits vergangen. Hinzu kam, daß der Boden gefroren war, daß Kivrin sich Rippen gebrochen hatte, und daß die Wirkung der Aspirintabletten nachließ. In der Kirche war es so eisig, daß er wieder vor Kälte zu zittern begann.

Wir können ihn nicht begraben, dachte er, den Blick auf der neben dem Toten knienden Kivrin. Aber wie konnte er ihr das sagen, nachdem er für alles andere zu spät gekommen war?

»Kivrin…«

Sie tätschelte sanft die kalte Hand des Toten. »Wir werden ihn nicht begraben können«, sagte sie in diesem ruhigen, ausdruckslosen Ton. »Wir mußten Rosemund in sein Grab legen, nach dem Verwalter…«

Sie blickte zu Dunworthy auf. »Heute früh versuchte ich ein neues Grab zu schaufeln, aber der Boden ist zu hart. Die Schaufel brach ab. Ich sprach die Totenmesse für ihn. Und ich versuchte die Glocke zu läuten.«

»Wir hörten sie«, sagte Colin. »So fanden wir Sie.«

»Es hätten neun Schläge sein sollen, aber ich mußte aufhören.« Sie legte die Hand in erinnertem Schmerz an ihre Seite. »Sie müssen mir helfen, das Totengeläute zu vollenden.«

»Warum?« fragte Colin. »Ich glaube nicht, daß irgendwo noch jemand am Leben ist, sie zu hören.«

»Das hat nichts zu sagen«, erwiderte Kivrin. Ihr Blick richtete sich auf Dunworthy.

»Wir haben keine Zeit«, sagte Colin. »Bald wird es dunkel, und der Absetzort ist…«

»Ich werde läuten«, sagte Dunworthy. »Sie bleiben hier«, ergänzte er, als sie Anstalten machte, aufzustehen. »Ich werde die Glocke läuten.« Er wandte sich um und ging durch das Kirchenschiff zurück.

»Es wird dunkel«, sagte Colin, der ihm nachtrabte. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe tanzte wild über die Säulen und die Steinplatten des Bodens, »und Sie sagten, Sie wüßten nicht, wie lange Badri das Netz offenhalten kann. Warten Sie doch einen Augenblick!«

Dunworthy stieß die Tür auf, die Augen gegen die erwartete Helligkeit des Schnees zusammengekniffen, aber während sie in der Kirche gewesen waren, hatte die Dämmerung eingesetzt, und aus dem dunkelnden Himmel rieselte der Schnee. Er ging schnell über den Friedhof zum Glockenturm. Die Kuh, die Colin bei ihrer Ankunft gesehen hatte, war durch die Friedhofspforte gekommen und wanderte quer über die Gräber auf sie zu. Ihre Hufe versanken bis über die Fesseln im Schnee.

»Was nützt es, die Glocke zu läuten, wenn niemand da ist, sie zu hören?« sagte Colin. Er blieb stehen, um seine Taschenlampe auszuschalten, dann rannte er, ihn wieder einzuholen.

Dunworthy betrat den Glockenturm. Er war so dunkel und kalt wie das Kircheninnere, und roch nach Ratten. Die Kuh steckte ihren Kopf herein, und Colin zwängte sich an ihr vorbei und stand an der gekrümmten Wand.

»Sie sind derjenige, der ständig sagt, daß wir zum Absetzort zurück müssen, daß das Netz geschlossen wird und uns hier zurückläßt«, sagte er. »Sie sind es, der sagte, wir hätten nicht einmal mehr Zeit, Kivrin zu suchen.«

Dunworthy stand eine kleine Weile in der Mitte des dunklen, runden Raumes, ließ seinen Augen Zeit zur Anpassung und versuchte zu Atem zu kommen. Er war zu schnell gegangen, und die Beengung in seiner Brust machte sich wieder unangenehm bemerkbar. Er blickte zum Seil auf, das über ihren Köpfen in der Dunkelheit hing. Eine Elle über dem zerfransten Ende war ein fettig aussehender Knoten.

»Darf ich läuten?« fragte Colin.

»Du bist zu klein.«

»Bin ich nicht«, sagte er und sprang hoch, das Seil zu ergreifen. Er erwischte das Ende unter dem Knoten und hing mehrere Atemzüge daran, bevor er sich fallen ließ, aber das Seil gab kaum nach, und die Glocke gab nur einen schwachen, verstimmten Ton von sich, als hätte jemand mit einem Stein an ihre Seite geschlagen. »Ist die schwer«, sagte er.

Dunworthy reckte die Arme und ergriff das rauhe Hanfseil. Es war kalt und faserig. Er zog kräftig abwärts, keineswegs überzeugt, daß er Besseres als Colin zuwege bringen würde, und das Seil schnitt in seine Hände. Bong.

»Ist das laut!« sagte Colin, klappte die Hände über die Ohren und blickte begeistert in den dunklen Turm hinauf.

»Eins«, sagte Dunworthy. Eins und auf. Er erinnerte sich der Amerikanerinnen, beugte die Knie und zog am Seil abwärts. Zwei. Und auf. Und drei.