Er wunderte sich, daß es Kivrin gelungen war, mit ihren gebrochenen oder geprellten Rippen überhaupt einen Glockenton zu erzeugen. Die Glocke war viel schwerer und bei weitem lauter als er es sich vorgestellt hatte, und die Töne schienen in seinem Kopf und seiner beengten Brust zu vibrieren. Bong.
Er dachte an Mrs. Piantini, wie sie ihre sulzigen Knie beugte und dabei zählte. Fünf. Er hatte nicht zu würdigen gewußt, welch schwierige Arbeit es war. Jeder Zug am Glockenseil schien ihm den Atem aus den Lungen zu reißen. Sechs.
Er hätte gern aufgehört und eine Ruhepause eingelegt, wollte aber Kivrin, die in der Kirche kniete und lauschte, nicht denken lassen, daß er aufgegeben habe oder zu nachlässig sei, um die Zahl der Glockenschläge vollzumachen. Er festigte seinen Griff über dem Knoten und als er mit allen Kräften zog, entrang sich seiner Brust ein lautes Ächzen.
»Fehlt Ihnen was, Mr. Dunworthy?«
»Nein«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Es schien ihm die Lungen aufzureißen. Sieben.
Die Glocke zog das Seil hinauf, und er ließ sich mit hochziehen. Mrs. Taylor kam ihm in den Sinn, wie sie, schon krank, die Schläge gezählt hatte, die zur Vollendung des Glockenspiels noch nötig waren, entschlossen, dem Fieber und den hämmernden Kopfschmerzen standzuhalten.
»Ich kann weitermachen«, sagte Colin, und Dunworthy konnte ihn kaum hören. »Ich kann Kivrin holen, und zusammen schaffen wir die beiden letzten Schläge. Wir ziehen zusammen am Seil.«
Dunworthy schüttelte den Kopf. Er zog mit aller Macht am Seil. Bong. Acht. »Jeder muß bei seiner Glocke bleiben«, sagte er atemlos. Er durfte das Seil nicht loslassen. Mrs. Taylor war ohnmächtig geworden, und die Glocke hatte das Seil hochgerissen, daß es wie eine Peitsche geschlagen hatte. Es hatte sich Finch um den Hals gewickelt und ihn beinahe erdrosselt. Er mußte festhalten, trotz allem.
Er ging in die Knie, stieß keuchend den angehaltenen Atem aus und ließ das Seil hochgehen. »Neun«, sagte er.
Colin beobachte ihn, eine steile Falte zwischen den Brauen. »Sie haben einen Rückfall, nicht?« sagte er argwöhnisch.
»Nein«, sagte Dunworthy und ließ das Seil los.
Die Kuh hatte ihren Kopf noch immer in der Tür. Er schob sie beiseite und ging zurück zur Kirche und hinein.
Kivrin kniete unverändert neben Roche, seine steife Hand in der ihrigen.
Er blieb vor ihr stehen. »Ich habe die Glocke geläutet.«
Sie blickte auf, ohne zu nicken.
»Meinen Sie nicht, daß wir jetzt gehen sollten?« sagte Colin. »Es wird dunkel.«
»Ja«, sagte Dunworthy. »Ich glaube auch, wir sollten…« Das Schwindelgefühl überwältigte ihn ganz unerwartet, und er schwankte und fiel beinahe über den Toten.
Kivrin streckte die Hand aus, und Colin sprang hinzu, daß das Licht seiner Taschenlampe wie wild über die Balkendecke zuckte, als er Dunworthys Arm ergriff.
Dunworthy ging taumelnd auf ein Knie nieder und mußte sich mit der flachen Hand am Boden abstützen. Die andere hatte er haltsuchend nach Kivrin ausgestreckt, aber sie war auf die Beine gekommen und zurückgewichen.
»Sie sind krank!« Es war eine Anklage, eine Verurteilung. »Sie haben die Pest bekommen, nicht?« sagte sie, und zum ersten Mal spiegelte sich eine Gefühlsregung in ihrer Stimme. »Ist es nicht so?«
»Nein«, sagte Dunworthy, »es ist…«
»Er hat einen Rückfall«, sagte Colin. Er steckte die Taschenlampe in die Armbeuge der Statue, um Dunworthy aus einer knienden Haltung aufzuhelfen. »Er hat meine Plakate nicht beachtet.«
»Es ist ein Virus«, sagte Dunworthy. Er setzte sich schwerfällig nieder und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Statue. »Es ist nicht die Pest. Wir sind beide mit Tetracyclin und Gammaglobulin geimpft. Wir können die Pest nicht bekommen.« Er ließ den Kopf gegen die Statue zurücksinken. »Es ist ein Grippevirus. Es wird wieder vorbeigehen. Ich muß nur einen Augenblick ausruhen.«
»Ich sagte ihm, daß er nicht die Glocke läuten sollte«, sagte Colin. Er entleerte den Sack auf den Steinboden und legte ihn Dunworthy um die Schultern.
»Sind noch Aspirintabletten übrig?«
»Sie sollen nur alle drei Stunden welche nehmen«, sagte Colin, »und Sie sollen sie nicht ohne Wasser nehmen.«
»Dann bring mir Wasser.«
Colin blickte hilfesuchend zu Kivrin, aber sie stand noch auf der anderen Seite des Toten und beobachtete Dunworthy mit reservierter Aufmerksamkeit.
»Jetzt«, sagte Dunworthy, und Colin rannte hinaus, daß seine Stiefeltritte in der leeren Kirche widerhallten. Dunworthy blickte hinüber zu Kivrin, und sie wich einen Schritt zurück.
»Es ist nicht die Pest«, wiederholte er. »Es ist ein Virus. Wir befürchteten, daß auch Sie ihm ausgesetzt waren, bevor Sie durchkamen, und daran erkrankten. War es so?«
»Ja«, sagte sie und kniete neben Roche nieder. »Er rettete mir das Leben.«
Sie glättete die purpurne Decke, und Dunworthy sah jetzt erst, daß es ein Samtumhang war, der in der Mitte ein großes aufgenähtes seidenes Kreuz trug.
»Er sagte mir, ich solle mich nicht fürchten«, sagte sie. Sie zog ihm den Umhang über die Brust mit den gefalteten Händen, aber nun wurden seine Füße, die in derben, schlecht zum Samtumhang passenden Sandalen steckten, sichtbar. Dunworthy nahm sich den Sack von den Schultern und breitete ihn dem Toten über die Füße, dann stand er vorsichtig auf, eine Hand auf die Statue gestützt, um nicht noch einmal das Gleichgewicht zu verlieren.
Kivrin tätschelte Roches Hände durch den Samtstoff. »Er wollte mich nicht verletzen«, sagte sie.
Colin kam mit einem hölzernen Eimer zurück, der halb voll Wasser war. Dem Aussehen nach mußte er es aus einer Pfütze geschöpft haben. Er schnaufte angestrengt. »Die Kuh griff mich an!« sagte er, als er den Eimer abstellte. Er schüttelte Dunworthy die restlichen Aspirintabletten in die Hand. Es waren fünf.
Dunworthy nahm zwei davon, schöpfte mit einer Hand ein wenig Wasser und schluckte. Die übrigen Tabletten gab er Kivrin. Sie nahm sie mit ernster Miene an, ohne sich von den Knien zu erheben.
»Ich konnte keine Pferde finden«, sagte Colin. Er schob Kivrin den Eimer hin. »Nur ein Maultier.«
»Esel«, sagte Kivrin. »Maisry stahl Agnes’ Pony.« Sie schluckte die Tabletten und ergriff wieder Roches Hand. »Für alle läutete er die Glocke, damit ihre Seelen sicher zum Himmel auffahren konnten.«
»Meinen Sie nicht, daß wir gehen sollten?« flüsterte Colin. »Draußen ist es beinahe dunkel.«
»Sogar für Rosemund«, sagte Kivrin, als ob sie nicht gehört hätte. »Er war schon krank. Ich sagte ihm, wir hätten keine Zeit mehr, müßten nach Schottland aufbrechen.«
»Wir müssen jetzt gehen«, sagte Dunworthy, »bevor es ganz dunkel ist.«
Sie rührte sich nicht von der Stelle, ließ Roches Hand nicht los. »Er hielt mir die Hand, als ich im Sterben lag.«
»Kivrin«, sagte er freundlich.
Sie legte ihre Hand an die Wange des Toten und richtete sich auf. Dunworthy bot ihr die Hand, aber sie stand ohne seine Hilfe auf, eine Hand gegen die Seite gedrückt, und ging langsam durch das Kirchenschiff hinaus.
An der Tür wandte sie sich um und blickte zurück in die Dunkelheit. »Als er im Sterben lag, sagte er mir, wo der Absetzort war, damit ich zum Himmel zurückkehren kann. Er sagte mir, ich solle ihn verlassen und gehen, so daß ich bereits dort sein würde, wenn er käme«, sagte sie, und ging hinaus in den Schnee.
36
Der Schnee fiel lautlos und friedlich auf den Rappen und den Esel, die geduldig bei der Friedhofspforte standen. Dunworthy half Kivrin auf den Hengst, und sie schreckte vor seiner Berührung nicht zurück, wie er es befürchtet hatte, doch sobald sie im Sattel saß, entzog sie sich seinem Griff und nahm die Zügel. Er sah sie im Sattel zusammensinken und sich die Seite halten, sagte aber nichts.