»Es geht schon«, sagte Dunworthy. Er stopfte eine Handvoll Schnee in den Mund, wartete, bis er geschmolzen war, nahm die drei Aspirin dazu und schluckte sie hinunter.
Kivrin verlängerte die Steigbügel mit geübter Geschicklichkeit, knotete die Lederriemen neu und kam zu Dunworthy, um ihm aufzuhelfen. Sie schob ihm die Hand unter den Arm. »Fertig?«
»Ja.« Dunworthy versuchte aufzustehen.
»Das war ein Fehler«, meinte Colin nach dem ersten mißglückten Versuch. »Wir werden ihn nie hinaufbringen.« Aber dann gelang es ihnen doch, indem sie seinen Fuß in den Steigbügel setzten und seine Hände um den Sattelknopf legten und ihn gemeinsam stützten, und schließlich war er sogar in der Lage, Colin die Hand zu geben, daß er vor ihm aufsitzen konnte.
Er zitterte nun nicht mehr am ganzen Körper, war aber nicht sicher, ob er es als ein gutes Zeichen deuten sollte oder nicht, und als sie weiterzogen, Kivrin voraus auf dem Esel, Colin schon wieder beim Erzählen, lehnte er sich an den Rücken des Jungen und schloß die Augen.
»Wenn ich aus der Schule komme, werde ich nach Oxford an die Universität gehen und Historiker wie Sie werden«, sagte Colin. »In die Zeit des Schwarzen Todes will ich nicht zurück. Ich möchte lieber zu den Kreuzzügen.«
Er hörte sie reden, den Kopf an Colins Schulter. Es war Nacht geworden, und sie waren in einem Wald im Mittelalter, zwei Krüppel und ein Kind, und Badri, ein weiterer Krüppel und selbst rückfallgefährdet, versuchte das Netz offen zu halten. Aber er konnte keine Empfindungen aufbringen, weder Panik noch Sorge. Colin hatte das Ortungsgerät, und Kivrin wußte, wo der Absetzort war. Sie würden es schon schaffen.
Selbst wenn sie den Absetzort nicht finden konnten und für immer hier gefangen sein würden, selbst wenn Kivrin ihm nicht vergeben würde, ginge das Leben weiter. Sie würde mit ihnen nach Schottland gehen, wohin die Pest nie gekommen war, und Colin würde Angelhaken und eine Bratpfanne aus seiner Trickkiste zaubern, und sie würden Forellen und Lachse fangen und essen. Vielleicht würden sie sogar Basingame finden…
»Ich habe im Fernsehen Schwertfechter gesehen, und ich kann ein Pferd lenken«, sagte Colin, und dann: »Halt!«
Colin riß an den Zügeln, und der Hengst blieb stehen, die Nüstern an der Kruppe des Esels. Sie waren auf dem Rücken einer kleinen Bodenerhebung. Zu ihren Füßen war eine gefrorene Pfütze und ein Weidendickicht.
»Warum treiben Sie ihn nicht an?« fragte Colin, aber Kivrin war schon abgesessen.
»Weiter geht er nicht«, sagte sie und klopfte Balaam den Hals. »Das war schon einmal so. Er sah mich durchkommen. Das hat er nicht vergessen. Ich dachte damals, es sei Gawyn gewesen, aber es war die ganze Zeit Pater Roche.« Sie zog dem Esel das Zaumzeug aus Stricken über den Kopf und gab ihm einen Klaps, und er machte auf der Stelle kehrt und trottete den Weg zurück.
»Möchten Sie reiten?« fragte Colin, schon von Sattel kletternd.
Sie schüttelte den Kopf. »Das Aufsitzen und Absteigen schmerzt mehr als das Gehen.« Sie blickte über die Senke zum jenseitigen Höhenzug. Der Wald endete dort in halber Höhe, und darüber lagen die verschneiten Weideflächen. Es mußte zu schneien aufgehört haben, obwohl Dunworthy es nicht bewußt wahrgenommen hatte. Die Wolkendecke riß auf, und zwischen ihnen zeigte sich der Westhimmel lilarosa und orangefarben.
»Er hielt mich für die heilige Katharina«, sagte sie. »Er sah mich durchkommen, wie Sie es befürchtet hatten. Er dachte, ich sei von Gott gesandt worden, um ihnen in ihrer Stunde der Not beizustehen.«
»Ja, und das haben Sie getan, nicht?« sagte Colin. Er zog ungeschickt an den Zügeln, und der Hengst setzte sich in Bewegung. Kivrin ging neben ihm. »Sie hätten sehen sollen, wie furchtbar es in dem anderen Dorf aussah, wo wir waren. Überall Leichen, manchen hatten sie Stricke um die Hälse geknotet und sie durch den Schnee zum Friedhof gezogen. Aber ich glaube nicht, daß jemand ihnen geholfen und die Toten begraben hat.«
Er ließ sich aus dem Sattel gleiten und gab Kivrin die Zügel. »Ich gehe nachsehen, ob das Netz offen ist«, sagte er und eilte davon. »Badri wollte es alle zwei Stunden öffnen.« Er brach durch das Weidendickicht und verschwand.
Kivrin brachte den Hengst am Fuß der Anhöhe zum Stehen und half Dunworthy herunter.
»Wir müssen ihm Sattel und Zaumzeug abnehmen«, sagte Dunworthy. »Als wir ihn fanden, war er halb verhungert, weil die Zügel sich in einem Weißdorn verfangen hatten.«
Zusammen lösten sie den Sattelgurt, nahmen ihm den Sattel ab, und Kivrin hakte die Trense auf, nahm dem Hengst das Zaumzeug ab und streichelte ihm den Kopf.
»Er wird schon durchkommen«, meinte Dunworthy.
»Vielleicht«, sagte sie.
Colin brach durch die Weiden, daß der Schnee von den Zweigen flog. »Es ist nicht da.«
»Es wird sich bald öffnen«, sagte Dunworthy.
»Nehmen wir das Pferd mit?« fragte Colin. »Ich weiß, daß Historiker nichts in die Zukunft mitnehmen dürfen, aber es wäre fein, wenn wir es machen könnten. Dann könnte ich den Hengst reiten, wenn ich an den Kreuzzügen teilnehme.«
Er blickte fragend von Kivrin zu Dunworthy. »Kommen Sie, das Netz kann jeden Augenblick aufgehen.«
Kivrin nickte. Sie gab dem Hengst einen Klaps auf die Flanke. Er ging ein paar Schritte und blieb dann stehen und blickte fragend zu ihnen zurück.
»Kommen Sie schon«, sagte Colin. Er arbeitete sich wieder in das Dickicht hinein.
Kivrin rührte sich nicht vom Fleck. Sie hatte die Hand an ihre Seite gelegt.
Dunworthy ging zu ihr. »Kann ich helfen?«
»Es wird schon gehen«, sagte sie und wandte sich ab, um die Weidenzweige auseinanderzubiegen.
Unter den Bäumen flossen die tiefen Schatten ineinander. Nur der schneebedeckte Waldboden verbreitete soviel Licht, daß man die einzelnen Stämme unterscheiden konnte. Colin schleppte den Sattel in die Mitte der Lichtung. »Für den Fall, daß wir die Öffnung gerade verpaßt haben und zwei Stunden warten müssen«, sagte er. Dunworthy ließ sich dankbar darauf nieder.
»Wie wissen wir, wo wir zu stehen haben, wenn das Netz geöffnet wird?« fragte Colin.
»Wir werden die Kondensation sehen können«, antwortete Kivrin. Sie ging zu einer großen Eiche und bückte sich, um den Schnee von ihren breiten Wurzelansätzen zu fegen.
»Sie meinen, wir können die Kondensation auch im Dunkeln sehen?«
Sie setzte sich vorsichtig unter den Baum, biß sich auf die Unterlippe, als sie sich auf der Wurzel niederließ.
Colin ging zwischen den beiden in die Hocke. »Wenn ich Zündhölzer mitgebracht hätte, könnte ich jetzt ein Feuer machen.«
»Es ist schon gut«, sagte Dunworthy.
Der Junge schaltete die Taschenlampe ein und wieder aus. »Ich glaube, es ist besser, die Batterie zu schonen, falls etwas schiefgeht.«
Vom Weidendickicht drangen Geräusche herüber. Colin sprang auf. »Ich glaube, es geht los!«
»Es ist der Hengst«, sagte Dunworthy. »Er sucht nach Futter.«
»Ach so.« Colin hockte sich nieder. »Sie glauben nicht, daß das Netz schon offen war und wir es bloß nicht gesehen haben, weil es dunkel ist?«
»Nein.«
»Vielleicht hatte Badri einen weiteren Rückfall und konnte das Netz nicht offenhalten.« Es klang mehr aufgeregt als ängstlich.
Sie warteten. Der Himmel war nun auch im Westen völlig dunkel, und zwischen den abziehenden Wolken kamen immer mehr Sterne hervor und blinzelten durch die Äste der Eiche. Colin kauerte neben Dunworthy und redete über die Kreuzzüge.
»Sie wissen alles über das Mittelalter«, sagte er zu Kivrin, »also dachte ich, Sie könnten mir vielleicht helfen, mich vorzubereiten, mir Unterricht zu geben, wissen Sie.«
»Du bist nicht alt genug«, sagte sie. »Es ist sehr gefährlich.«
»Ich weiß«, sagte Colin. »Aber ich möchte wirklich gehen. Sie müssen mir helfen. Bitte.«