Kivrin sagte etwas zu ihm und zeigte auf den messingbeschlagenen Kasten. Montoya, die sich über Badris Schulter gebeugt hatte, richtete sich ungeduldig auf und ging kopfschüttelnd auf Kivrin zu. Diese sagte etwas, ziemlich entschieden, und Montoya kniete nieder und rückte die Reisekiste ein Stück näher zum Wagen.
Gilchrist überprüfte einen weiteren Punkt auf seiner Liste, sagte etwas zu Latimer, und Latimer ging und holte einen flachen Metallkasten, den er Gilchrist aushändigte. Gilchrist sagte etwas zu Kivrin, und sie legte die Handflächen vor der Brust zusammen. Sie neigte den Kopf darüber und begann zu sprechen.
»Läßt er sie Beten üben?« sagte Dunworthy. »Das wird nützlich sein, denn Gottes Hilfe mag die einzige Hilfe sein, die sie während dieses Praktikums erhoffen kann.«
Mary schneuzte sich wieder. »Sie überprüfen das Implantat.«
»Was für ein Implantat?«
»Ein besonderes Chip-Aufnahmegerät, so daß sie ihre Feldarbeit aufzeichnen kann. Die meisten Zeitgenossen können nicht lesen und schreiben, also implantierte ich ein kleines Aufnahmegerät mit Mikrofon in ein Handgelenk und einen Gedächtnisspeicher in das andere. Sie aktiviert sie, indem sie die Handballen gegeneinanderdrückt. Wenn sie hineinspricht, sieht es aus, als ob sie bete. Die Chips haben eine Kapazität von 2,5 Gigabyte, also wird sie in der Lage sein, ihre Beobachtungen während der gesamten zweieinhalb Wochen aufzuzeichnen.«
»Sie hätten auch einen Signalgeber implantieren sollen, damit sie um Hilfe rufen kann.«
Gilchrist befingerte den flachen Metallkasten. Er schüttelte den Kopf, dann hob er Kivrins gefaltete Hände ein wenig höher. Der zu lange Ärmel rutschte zurück. Ihre Hand hatte eine Schnittwunde. Eine dünne bräunliche Linie getrockneten Blutes markierte sie.
»Etwas stimmt da nicht«, sagte Dunworthy, zu Mary gewandt. »Sie ist verletzt.«
Kivrin sprach wieder in ihre gefalteten Hände. Gilchrist nickte. Kivrin blickte zu ihm auf, sah Dunworthy und warf ihm ein erfreutes Lächeln zu. Auch ihre Schläfe war blutig. Das Haar unter der Kopfbinde war blutverklebt. Gilchrist folgte ihrer Blickrichtung mit den Augen, sah Dunworthy und eilte auf die gläserne Trennwand zu. Er sah gereizt aus.
»Sie ist noch nicht mal fort und schon verletzt! Und die dort drinnen scheren sich nicht darum!« Dunworthy schlug gegen die Trennscheibe.
Gilchrist drückte einen Schalter an der Seite, dann kam er herüber und stand vor Dunworthy. »Mr. Dunworthy«, sagte er. Er nickte Mary zu. »Dr. Ahrens, ich freue mich sehr, daß Sie gekommen sind, Kivrin zu verabschieden.« Er verlieh den letzten Worten einen leichten Nachdruck, so daß sie wie eine Drohung klangen.
»Was ist mit Kivrin geschehen?« fragte Dunworthy.
»Geschehen?« sagte Gilchrist, offenbar überrascht. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
Kivrin kam auch zur Trennwand herüber, die Röcke mit blutiger Hand gerafft. An ihrer Wange war eine rötliche Prellung zu sehen.
»Ich möchte mit ihr sprechen.«
»Ich fürchte, dazu ist jetzt keine Zeit«, sagte Gilchrist. »Wir müssen uns an den Fahrplan halten.«
»Ich verlange sie zu sprechen.«
Gilchrist schürzte die Lippen, und zwei weiße Streifen erschienen zu beiden Seiten seiner Nase. »Darf ich Sie daran erinnern, Mr. Dunworthy«, sagte er kühl, »daß diese Absetzoperation vom Brasenose College durchgeführt wird, nicht von Balliol. Ich weiß natürlich die Hilfe zu schätzen, die Sie uns mit der Ausleihe Ihres Technikers geleistet haben, und ich respektiere Ihre langjährigen Erfahrungen als Historiker, aber ich versichere Ihnen, daß ich alles gut in der Hand habe.«
»Warum ist Ihre Historikerin dann verletzt, noch ehe sie abgesetzt wird?«
»Ach, Mr. Dunworthy, ich bin so froh, daß Sie gekommen sind«, sagte Kivrin, die zu Gilchrist an die Trennscheibe kam. »Ich fürchtete, es würde mir nicht möglich sein, mich von Ihnen zu verabschieden. Ist es nicht aufregend?«
Aufregend. »Sie bluten«, sagte Dunworthy. »Was ist passiert?«
»Nichts«, sagte Kivrin, befühlte vorsichtig ihre Schläfe und blickte dann auf ihre Fingerspitzen. »Es ist Teil der Kostümierung.« Sie sah an ihm vorbei zu Mary. »Dr. Ahrens, auch Sie sind gekommen! Ich bin so froh.«
Mary war aufgestanden, ihre Einkaufstasche in den Händen. »Ich möchte Ihre antivirale Impfung sehen«, sagte sie. »Hat es außer der Anschwellung irgendeine andere Reaktion gegeben? Ein Jucken, zum Beispiel?«
»Es sieht gut aus, Dr. Ahrens«, sagte Kivrin. Sie schob den Ärmel zurück und ließ ihn wieder fallen, bevor Mary die Unterseite ihres Armes richtig begutachten konnte. An Kivrins Unterarm aber war eine weitere rötliche Prellung, die sich bereits schwarz und blau verfärbte.
»Es würde zweckdienlicher sein, sie zu fragen, warum sie blutet«, sagte Dunworthy.
»Es ist Teil der Kostümierung, wie ich sagte. Ich bin Isabel de Beauvrier, und ich wurde auf der Reise von Räubern überfallen«, sagte Kivrin. Sie wandte sich zur Seite und zeigte zu den Kisten und Körben und dem zerschlagenen Fuhrwerk. »Meine Sachen wurden gestohlen und ich für tot liegengelassen. Die Idee stammte von Ihnen, Mr. Dunworthy«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Ich habe gewiß niemals vorgeschlagen, daß Sie die Reise blutig und zerschlagen antreten«, sagte Dunworthy.
»Theaterblut war unpraktisch«, sagte Gilchrist. »Es gab keine statistisch bedeutsame Wahrscheinlichkeit, daß niemand sich um ihre Verletzungen kümmern würde.«
»Und es kam Ihnen nie der Gedanke, eine realistische Verletzung nachzuahmen? Statt dessen zogen Sie ihr eins über den Kopf?« sagte Dunworthy zornig.
»Mr. Dunworthy, darf ich Sie erinnern…?«
»Daß dies ein Brasenose-Projekt ist, nicht eines von Balliol? Da haben Sie verdammt recht. Wenn es ins 20. Jahrhundert ginge, würden wir versuchen, die Historikerin vor Verletzungen zu bewahren, statt ihr selbst welche zuzufügen. Ich möchte mit Badri sprechen. Ich möchte wissen, ob er die Berechnungen des Lehrlings überprüft hat.«
Gilchrist schürzte wieder die Lippen. »Mr. Dunworthy, Mr. Chaudhuri mag Ihr Netztechniker sein, aber dies ist mein Projekt. Ich versichere Ihnen, daß wir jede Möglichkeit in Betracht gezogen haben…«
»Es ist bloß ein Kratzer«, sagte Kivrin. »Schmerzt nicht einmal. Ich fühle mich gut, wirklich. Bitte, regen Sie sich nicht auf, Mr. Dunworthy. Die Idee, verletzt zu sein, war meine eigene. Ich erinnerte mich daran, daß Sie sagten, wie verwundbar eine Frau im Mittelalter war, und da dachte ich mir, es wäre eine gute Idee, wenn ich verwundbarer aussehen würde als ich bin.«
Armes Mädchen, dachte Dunworthy, es würde dir unmöglich sein, verwundbarer auszusehen als du bist.
»Wenn ich mich bewußtlos stelle, kann ich hören, was die Leute über mich sagen, und sie werden nicht eine Menge Fragen stellen, wer ich bin, denn es wird offensichtlich sein, daß…«
»Es ist Zeit, daß Sie Ihre Position einnehmen«, sagte Gilchrist und ging hinüber zur Schalttafel an der Wand.
»Ich komme«, sagte Kivrin, ohne sich von der Stelle zu rühren.
»Wir sind bereit, das Netz einzustellen.«
»Ich weiß«, sagte sie fest. »Ich komme, sobald ich mich von Mr. Dunworthy und Dr. Ahrens verabschiedet habe.«
Gilchrist nickte knapp und stieg wieder zwischen die herumliegenden Kisten. Latimer fragte ihn etwas, und er antwortete kurz.
»Was bringt es mit sich, wenn Sie Ihre Position einnehmen?« fragte Dunworthy. »Gibt er Ihnen eines mit dem Knüppel, weil es eine statistische Möglichkeit gibt, daß jemand nicht glauben wird, ob Sie wirklich bewußtlos sind?«
Kivrin grinste. »Es bringt nur mit sich, daß ich mich hinlege und die Augen schließe«, sagte sie. »Machen Sie sich keine Sorgen.«