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Nein, Kivrin würde nicht mit geschlossenen Augen dort liegen bleiben, wenn die mittelalterliche Welt vor ihr ausgebreitet lag. Er sah sie plötzlich vor sich, wie sie in diesem lächerlichen Umhang, dem Kittel und den langen Röcken dastand und die Landstraße entlangspähte, bereit, sich von einem Augenblick zum anderen wieder auf den Boden zu werfen, falls ein ahnungsloser Reisender in Sicht käme, und inzwischen alles in sich aufnahm, die Hände in einem Gebet von Ungeduld und Begeisterung gefaltet, und er fühlte sich plötzlich ermutigt.

Sie würde schon zurechtkommen. In zwei Wochen würde sie wieder durch das Netz zurückkehren, schmutzig und verlaust, voller Geschichten über haarsträubende Abenteuer und Gefahren, denen sie um Haaresbreite entgangen war, grauenvollen Geschichten, die ihm noch Wochen danach Alpträume bereiten würden.

»Sie wird da gut durchkommen, wissen Sie, James«, sagte Mary und musterte ihn stirnrunzelnd.

»Ich weiß«, sagte er. Er ging und brachte ihr und sich selbst noch eine halbe Pint. »Wann sollte der Großneffe ankommen?«

»Um drei. Colin bleibt eine Woche, und ich habe keine Ahnung, was ich mit ihm anfangen soll. Außer mir Sorgen zu machen, natürlich. Vielleicht könnte ich mit ihm ins Ashmolean Museum gehen. Kinder interessieren sich immer für Museen, nicht wahr? Pocahontas’ Kleider und alles?«

Dunworthy erinnerte sich an Pocahontas’ Kleider als an ein völlig uninteressantes Ding aus steifem grauen Material, ähnlich dem Schal, den sie Colin zugedacht hatte. »Ich würde das Museum für Naturgeschichte vorschlagen.«

Von der Tür ertönte ein Ding Dong, und als Dunworthy hinspähte, sah er seinen Sekretär auf der Schwelle stehen und ins Lokal blinzeln.

»Vielleicht sollte ich Colin auf den Carfax-Turm steigen und das Glockenspiel in Stücke schlagen lassen«, sagte Mary.

»Da ist Finch«, sagte Dunworthy und hob die Hand, daß er sie bemerkte, aber Finch war bereits unterwegs zu ihrem Tisch. »Ich habe Sie überall gesucht, Sir«, sagte er. »Etwas ist schiefgegangen.«

»Mit der Fixierung?«

Sein Sekretär sah ihn verständnislos an. »Der Fixierung? Nein, Sir, es sind die Amerikaner. Sie sind verfrüht eingetroffen.«

»Was für Amerikaner?«

»Die Glockenläuter. Aus Colorado. Die Frauengilde der Glockenspieler und Schellenläuter der Westlichen Staaten.«

»Erzählen Sie mir bloß nicht, Sie hätten noch mehr Weihnachtsglocken importiert«, sagte Mary.

»Ich dachte, die sollten am zweiundzwanzigsten kommen«, sagte Dunworthy zu Finch.

»Es ist der Zweiundzwanzigste«, erwiderte Finch. »Sie sollten heute nachmittag kommen, aber ihr Konzert in Exeter wurde abgesagt, also sind sie ihrem Fahrplan etwas voraus. Ich rief bei den Mediävisten an, aber Sie waren nicht mehr dort. Mr. Gilchrist sagte mir, er glaube, Sie seien ausgegangen, um zu feiern.« Er blickte zu Dunworthys leerem Bierglas.

»Ich feiere nicht«, sagte Dunworthy. »Ich warte auf eine Fixierung.« Er sah auf seine Uhr. »Es wird noch mindestens eine weitere Stunde dauern.«

»Sie versprachen, daß Sie für die Gruppe eine Führung zu den hiesigen Glocken veranstalten würden, Sir.«

»Es gibt wirklich keinen Grund, warum Sie hier sein müßten«, sagte Mary. »Ich kann Sie im Balliol anrufen, sobald wir die Fixierung haben.«

»Ich werde kommen, wenn wir die Fixierung haben«, sagte Dunworthy mit einem ärgerlichen Seitenblick zu Mary. »Zeigen Sie ihnen das College und geben Sie ihnen dann ein Mittagessen. Das sollte eine Stunde dauern.«

Finch machte ein unglückliches Gesicht. »Sie sind nur bis vier Uhr hier. Sie haben heute abend ein Schellenkonzert in Ely, und sie wollen unbedingt die Glocken vom Christ Church College sehen.«

»Dann führen Sie sie hin. Zeigen Sie ihnen den Großen Tom. Führen Sie sie auf den Turm von St. Martin. Oder machen Sie eine Führung durch das New College. Ich werde kommen, sobald ich kann.«

Finch sah aus, als wolle er noch etwas fragen, besann sich dann aber eines anderen. »Ich werde ihnen sagen, daß Sie innerhalb einer Stunde dort sein werden, Sir«, sagte er und wandte sich zum Gehen. Auf halbem Weg machte er halt und kam zurück. »Ich hätte beinahe vergessen, Sir, daß der Vikar anrief und fragte, ob Sie bereit sein würden, beim ökumenischen Gottesdienst am Heiligabend die Weihnachtsbotschaft zu lesen. Der Gottesdienst soll dieses Jahr in St. Mary stattfinden.«

»Sagen Sie ihm ja«, sagte Dunworthy, dankbar, daß Finch in der Angelegenheit der Glockenspieler aufgegeben hatte. »Und sagen Sie ihm, daß wir heute nachmittag in den Glockenturm müssen, damit ich diesen Amerikanerinnen die Glocken zeigen kann.«

»Ja, Sir«, sagte er. »Wie wäre es mit Iffley? Meinen Sie, ich sollte sie nach Iffley führen? Die Glocken dort sind ein sehr schönes elftes Jahrhundert.«

»Auf jeden Fall«, sagte Dunworthy. »Bringen Sie sie nach Iffley. Ich werde zurück sein, sobald ich kann.«

Finch öffnete den Mund und schloß ihn wieder. »Jawohl, Sir«, sagte er und ging hinaus.

»Sie waren ein wenig hart mit ihm, finde ich«, sagte Mary. »Schließlich können Amerikaner schrecklich sein. Und erst Amerikanerinnen…«

»In fünf Minuten wird er wieder da sein und mich fragen, ob er sie zuerst ins Christ Church College führen solle«, sagte Dunworthy. »Der Mann hat absolut keine Initiative.«

»Ich dachte, das bewunderten Sie bei jungen Leuten«, sagte Mary. »Jedenfalls wird er nicht ins Mittelalter davonlaufen.«

Die Tür ging wieder auf. »Das wird er sein. Wahrscheinlich will er wissen, was er ihnen zum Mittagessen geben soll.«

»Gekochtes Rindfleisch und in Wasser gekochtes Gemüse«, sagte Mary. »Amerikaner erzählen so gern Geschichten über unsere fürchterliche Küche. Ach du lieber Gott.«

Dunworthy sah sich zur Tür um. Gilchrist und Latimer standen dort, eingerahmt vom grauen Licht des Dezembertages. Gilchrist lächelte breit und sagte etwas über die Glocken. Latimer mühte sich mit einem großen schwarzen Schirm ab, der sich nicht schließen lassen wollte.

»Ich nehme an, wir müssen höflich sein und sie einladen, sich zu uns zu setzen«, sagte Mary.

Dunworthy griff zum Mantel. »Seien Sie höflich, wenn Sie wollen. Ich habe nicht die Absicht, mir diese zwei anzuhören, wie sie einander beglückwünschen, daß sie ein unerfahrenes junges Mädchen in Gefahr gebracht haben.«

»Sie hören sich wieder wie Sie-wissen-schon-wer an«, sagte Mary. »Sie würden nicht hier sein, wenn etwas schiefgegangen wäre. Vielleicht hat Badri schon die Fixierung.«

»Dafür ist es zu früh«, sagte er, setzte sich jedoch wieder. »Wahrscheinlicher ist, daß er sie hinauswarf, um mit seiner Arbeit voranzukommen.«

Gilchrist hatte ihn anscheinend gesehen, als er aufgestanden war. Er wandte sich halb um, wie um wieder hinauszugehen, aber Latimer steuerte bereits auf den Tisch zu. Gilchrist folgte ihm. Er lächelte nicht mehr.

»Ist die Fixierung da?« fragte Dunworthy.

»Die Fixierung?«

»Ja, die Fixierung«, sagte Dunworthy. »Die genaue Bestimmung des Absetzortes und der Absetzzeit, die es möglich macht, Kivrin wieder herauszuziehen.«

»Ihr Techniker sagte, es würde mindestens eine Stunde erfordern, die Koordinaten zu bestimmen«, sagte Gilchrist verdrießlich. »Braucht er immer so lang? Er sagte, er würde kommen und uns Bescheid sagen, wenn er fertig wäre, die vorläufigen Ablesungen ließen jedoch erkennen, daß das Absetzen planmäßig und mit nur minimaler Verschiebung abgelaufen sei.«

»Was für eine gute Nachricht!« sagte Mary, sichtlich erleichtert. »Kommen Sie, setzen Sie sich. Wir haben auch auf die Fixierung gewartet und eine Pint getrunken. Möchten Sie auch etwas trinken?« fragte sie Latimer, der den Schirm endlich zusammengeklappt hatte und das Band mit dem Druckknopf verschloß.