Er forderte Musa auf, mitzukommen. Der fand es begreiflich, daß Raquel in der Galiana bleiben, und auch, daß Jehuda die Tochter begleiten wollte. Für ihn selber aber, meinte er, habe es keinen rechten Sinn, in solcher Lage den Ort zu wechseln. »Laß mich hier bei unsern Büchern«, bat er. »Es wäre ein Unrecht, sie ohne Hüter zu lassen. Vielleicht wäre es gut«, erwog er und belebte sich, »zwei oder drei der kostbarsten Manuskripte in die Judería zu schaffen. Wie gut, daß der Sefer Hillali schon dort ist.«
Jehuda und Musa saßen nach dem frühen Abendessen noch zusammen, redend, trinkend. Um sie war der Duft der vielen Jahre, die sie gemeinsam verbracht hatten. Sie sprachen von ihrer Bedrängnis mit der Sachlichkeit erfahrener Männer. Sie sprachen mit leiser, spöttischer Ehrerbietung vom Tode.
Musa stand an seinem Schreibtisch, kritzelte Kreise und Arabesken und meinte: »Es sind nicht Alfonsos Sterne, die ihn und uns in diese peinliche Situation gebracht haben: es ist sein Wesen, es ist sein Rittertum. Das Rittertum und die Pest sind die schlimmsten Geißeln, mit denen Gott seine Geschöpfe züchtigt.«
Jehuda konnte nicht anders, er mußte dem Freunde noch erzählen, mit welcher Wärme Don Ephraim seine Verdienste gerühmt hatte. »Nun haben es die Juden doch noch eingesehen«, sagte er bescheiden stolz, »daß es nicht Sucht nach Ehre, Reichtum und Glanz war, was mich ihnen helfen hieß.« Musa pflichtete wohlwollend bei: »Ich habe es miterlebt und weiß, daß du oft nicht nur aus Ehrsucht, sondern auch aus Großheit des Herzens gehandelt hast.« In seiner freundlich lehrhaften Art erläuterte er: »Gleich ihren Krankheiten, heißt es bei Hippokrates, haben auch die Handlungen der Menschen selten nur einen Grund, es hat vielmehr jede einzelne Handlung mannigfache Wurzeln.« Jehuda erwiderte lächelnd: »Verschwenderisch mit Lob bist du nicht, mein Freund Musa.«
Ihr Gespräch vertröpfelte. Sie, denen sonst das Wort so leicht vom Munde floß, wurden immer ärmer an Worten, je näher die Minute rückte, da Jehuda gehen mußte. Als er aufbrach, schwiegen sie vollends und drückten einander nur die Hand.
Dann aber, unversehens und ungeschickt, umarmte Musa den Jehuda; niemals hatte er dergleichen getan. Und als Jehuda gegangen war, stand er noch lange an derselben Stelle, mit hängenden Armen, vor sich hin zur Erde schauend. Als Jehuda des andern Morgens in der Galiana erwachte, fand er sich einen Augenaufschlag lang nicht zurecht. Dann wußte er, wo er war und was gegen dieses Haus andrängte. Doch nun fürchtete er sich nicht mehr; in ihn eingekehrt war eine große Ruhe, er spürte jene Ergebung in das Schicksal, die Musa ihm so oft gepriesen hatte.
Er schloß die Augen und lag noch eine Weile still. Vom Patio her kamen Vogelstimmen, ein paar dünne Sonnenstrahlen kletterten durch die Ritzen der Fensterläden ihm übers Gesicht. Er lag, labte sich an der Stille. Bis jetzt hatte er immer geglaubt, rechnen und planen zu müssen, für sich und die andern; nun endlich, zum erstenmal, spürte der ruhende Mann, was Frieden ist, spürte es mit allen Gliedern, weidete sich daran.
Er stand auf, badete, machte sich zurecht, langsam, sorgfältig. Ging auf leisen Sohlen durch Haus und Garten. Nahm wahr die hebräischen und arabischen Spruchbänder an den Wänden. Nahm wahr, daß einer das Glas der Mesusa zerschlagen und die Zisternen des Rabbi Chanan zugeschüttet hatte. Für einen Augenblick war eine wilde, zornige Eifersucht in ihm. Sogleich aber schüttelte er den Kopf über sich selber, und aus seinem Unmut wurde wissende Freude, daß in den Tagen, die noch blieben, Raquel ihm gehörte, nicht dem andern.
Er saß am Rande des kleinen Teiches, halb liegend, wie er damals auf den Stufen der Fontäne gesessen war. Genoß es, daß er an keine Zukunft mehr denken, keine Entschlüsse mehr fassen mußte. Wog, was geschehen war, und in der Erinnerung war alles gut, das Frohe und das Üble. Er dachte an die frommen, besessenen, verachtungsvollen Augen des Rabbi Tobia, und der Gedanke erzürnte ihn nicht und beschämte ihn nicht.
Auch seines Sohnes Alazar dachte er. Bisher, mit hartem Willen, hatte er die Erinnerung nicht in sein Bewußtsein emporsteigen lassen. Unbewegten Gesichtes hatte er gehört, daß des Königs Schildknappe getötet worden war in der Schlacht von Alarcos, er hatte nicht weiter gefragt, ihm war der Knabe seit langem gestorben. Jetzt, sitzend am Rande des Teiches in der Galiana, gedachte er des Sohnes mit Trauer und ohne Groll.
Ein Diener kam, ihn zu Raquel zu rufen. Sie frühstückten unter gutem, gleichmäßigem Gespräch. Mit keinem Wort erwähnten sie ihre Gefahr. Hierher in die Galiana drang nicht die Unordnung der Stadt Toledo. Friede war um sie. Haus und Garten waren gepflegt, Speisen in reicher Auswahl standen bereit, lautlose Diener warteten auf Befehle.
Nach wenigen Stunden war ihnen, als hätten sie hier in wochenlanger Gemeinsamkeit gelebt. Sie ergingen sich im Garten, oder sie genossen die Kühle des Hauses, sie suchten einander und ließen sich wieder allein.
Sie hatten noch drei Tage zu leben, aber das wußten sie nicht. Sie sahen, wie die Sonnenuhr die Stunden zählte, wie die Schattenweiser vorrückten, und tief in seinem Innern wußte Jehuda: es waren ihre letzten Stunden, die da gezählt wurden; allein er ließ diese Wissenschaft ihre erfüllte Stille nicht beunruhigen.
Raquel ihresteils hatte jenes Gespräch mit ihrem Vater gut und mehrmals überdacht und wußte um ihre Bedrohtheit. Aber sie glaubte nicht daran. Alfonso hatte gesagt: Warte auf mich. Alfonso wird kommen. Es konnte nicht sein, daß der Tod, der Zerstörer aller Dinge, sie anrührte, bevor Alfonso kam. Sie stieg hinauf zu dem Ausblick, von dem sie die Straße übersehen konnte, die von Toledo herunterführte. Sie wartete heiß und zuversichtlich.
Am zweiten Tag kam Don Benjamín in die Galiana, mit Gefahr des Lebens, als Bote Don Ephraims. In glühenden Worten beschwor er Jehuda und Raquel, sich in den festen Schutz der Judería zu begeben. Es quälte und beglückte Jehuda, daß sie ein letztes Mal versucht wurden. Aber Raquel sagte sanft und bestimmt: »Don Alfonso hat mir befohlen, hier zu bleiben. Ich bleibe. Du, mein Freund Don Benjamín, wirst mich begreifen.«
Benjamín, so scharf ihn ihre Worte peinigten, verstand sie. Ihre Seele blieb verbunden mit diesem Ritter, dem König von Edom, dem Manne des Krieges. Das Elend, das sein ruchlos verspieltes Heldentum über die Halbinsel gebracht hatte, trübte ihr nicht seinen Glanz. Sie liebte ihn weiter, sie glaubte weiter an ihn, sie lehnte, weil er ihr herrscherhaft ein paar freundliche Worte hingeworfen hatte, die Zuflucht der Judería ab. Mehr als das: Doña Raquel, diese Raquel, wie er sie sanft und stolz dastehen sah, schien ihm gar nicht mehr denkbar unter dem Volk der Judería. Neid, Bosheit, widerwillige Bewunderung, Schmähsucht, Neugier würde dort um sie herum sickern und sudeln. Nein, sie war nicht denkbar inmitten all des kleinen Unflats.
Er sagte: »Ich werde nicht weiter in dich drängen, Doña Raquel, und nicht in dich, Don Jehuda. Aber laßt mich hierbleiben bis zur Nacht. Dann will ich zurückkehren ohne euch.«
Er blieb und erwies sich als unaufdringlicher, einfühlsamer Gast. Er spürte es, wenn Jehuda mit Raquel allein sein wollte, und war zur rechten Zeit wieder da. Bald waren sie zu dreien, bald saß Jehuda mit Raquel in ihrem Zimmer, bald ging Benjamín mit ihr die Kieswege des Gartens entlang.
Raquel war einsilbig, aber ihre Stummheit schien Benjamín beredter als Worte. Er versuchte, sie zu zeichnen. Gab es auf. Es war Vermessenheit, mit Gott wetteifern zu wollen, der diese geschaffen hatte. Wer durfte, und wäre er der Meister der Meister, daran denken, Raquels innere Harmonie wiederzugeben, die tiefe Übereinstimmung von Gestalt, Gesicht, Bewegung? An ihr offenbarte sich die Lehre des Plato: »Die Schönheit steht nicht höher als die andern Ideen, aber sie leuchtet durch das Auge, den hellsten unserer Sinne, heller als alle andern Urbilder durch die Körperlichkeit.« Sie war ein Gleichnis, Raquel, ein Gleichnis dessen, was den Menschen beglückt und erhöht. Ein jeder, wenn er sie nur vorübergehen sah, mußte besser werden. Dieser rohe und ritterliche König war der einzige, der nicht besser geworden war durch sie – und darum der einzige, den Benjamín an diesem Tage haßte. Er spürte schmerzhaft, wie Raquel noch immer hoffte, den Un-Menschen zu vermenschlichen, und er liebte sie noch mehr um diesen ihren kindlichen, unzerstörbaren Glauben.