Wenn der Castro an dem Haus vorbeikam, verzog er wie die andern und wartete. Sie warteten, alle, warteten bedrohlich. Keiner wollte der erste sein, Hand zu legen an das Haus des mächtigen Escrivanos.
Immer öfter kam der Castro an dem Haus vorbei. Das Haus zog ihn. Er sah stets das gleiche: sie standen vor dem Haus, murrten dumpf, warteten.
Einmal aber hörte er schon von der Ferne helles, wüstes Geschrei. Er beeilte sich. Und siehe da, mehrere, ziemlich viele, schlugen gegen das riesige Tor. Auch mit dem mächtigen Klöppel schlugen sie gegen das Eisen, daß es ungestüm und herrisch durch das Geschrei klang. Doch kein Pförtner zeigte sich. Schließlich stieg einer auf die Schulter eines andern und kletterte die Mauer hinauf. Rasch, unter dem Jubel der vielen, war er oben. Er verschwand im Innern. Und da öffnete sich schon der Ausschnitt des Tores, in ihm erschien das lachende, triumphierende Gesicht des Eindringlings, und mit scherzhafter, höflicher Gebärde lud er die andern, einzutreten.
Der Castro stand und überlegte. Er hatte ein paar seiner Leute mit sich, er hätte ohne viel Mühe das Tor verteidigen und es halten können, bis Verstärkung herbeigerufen war. Aber lautete nicht sein Auftrag, den einen preiszugeben und die vielen zu retten? Er stand und tat nichts, und immer mehr drangen durch den kleinen Ausschnitt des Tores ins Innere.
Schließlich folgte er selber. Die Schreier waren still geworden, nun sie im ersten Hofe standen. Kein Mensch von den Inwohnern zeigte sich, keiner von den vielen Dienern, Schreibern, Hausbeamten. Das Volk schob sich verlegen die Wände entlang, öffnete zögernd ein zweites Tor, das ins Innere führte. Staunend, betreten, dümmlich lachend standen sie inmitten der schweigenden Pracht. Schoben sich weiter. Stießen versehentlich eine Vase um, eine zweite. Sie zerbrach. Einer nahm einen Pokal aus einer Nische, ein kunstvolles Glas, schmiß es zu Boden; es zerbrach nicht auf dem dicken Stoffbelag. Der Mensch, zornig jetzt, riß den Belag zurück, Steinboden zeigte sich, er schmetterte das Glas auf den Stein, es zersplitterte mit Lärm.
Ein erschreckter Diener kam zum Vorschein, ein Moslem. Er wollte etwas sagen, sänftigen, Vernunft zureden, vielleicht auch wollte er mitteilen, daß der Herr des Hauses nicht da sei. Man hörte ihn nicht in dem allgemeinen Geschrei, man wollte ihn nicht hören, man schlug ihm über den Mund, man stieß ihn, erst zaghaft, dann bösartiger. Da lag er, blutig, japsend. Die Menge freute sich. Wurde wild. Zerriß, zerschlug, zerschmiß, was sich zerreißen und zerschlagen ließ.
Der Castro schaute zu, wie benommen. Dies ist sein Haus. Der Krieg ist im Gang, und Doña Leonor hat gesagt, dies ist sein Haus. Der Jud, der sich hereingesetzt hatte, scheint nicht da zu sein; vielleicht auch hat er sich in einen Winkel verkrochen, das wird sich noch herausstellen. Es ist sein, des Castro, Haus, endlich. Und es ist ein sehr reiches Haus. Es ist ein lästerliches, heidnisches Haus. Was hat der Jud sich erdreistet! Was hat er aus seinem guten, ritterlichen, christlichen Castillo gemacht!
Der Castro, langsam, mit wuchtigen Schritten, klirrend, ging durch den Saal, stieg auf die kleine Estrade, stand in der Öffnung des Geländers, welches die Estrade abtrennte. Er stand, der stämmige Mann, in Haltung, wie alter Brauch sie vorschrieb, mit gespreizten Beinen, beide Hände auf sein Schwert gestützt, breit, wuchtig; aus den tiefliegenden Augen beschaute er genießerisch die Menschen, die sein Haus befreiten von dem Unrat, mit dem der Jud es besudelt hatte.
Inzwischen waren immer mehr eingedrungen; sie hatten das große Haupttor ganz geöffnet. Das weite, stille Haus, seine Säle und seine kleinen Zimmer, seine Höfe und seine Kammern waren mit einemmal voll von schreienden, wütigen Menschen. Einige steckten, was ihnen wertvoll schien, in ihre Taschen. Den meisten aber war daran nichts gelegen; ihre Lust ging dahin, zu zerschlagen, zu zerstören. Sie suchten nach dem Juden, doch der war nicht da, der Feigling, der hatte sich davongemacht. Nur ein paar armselige Diener fand man, auf die man losprügeln konnte. Aber wenigstens des Juden Habe war da, die kostbaren, verruchten Dinge, um derentwillen er das Land ausgeplündert und verraten hatte. Die Wut aller richtete sich gegen diese Dinge. Sie zerrissen, zerbrachen, zerschlugen, zertrümmerten, zornig, hingegeben, jubelnd.
Ihre Raserei griff auf den Castro über. Auch in ihm tobte es: Hin muß es sein, das da! Tot muß es sein! In Trümmern muß es sein, all das Feine, Üppige, Jüdische, Weibische, Heidnische! Und mit der Scheide seines Schwertes schlug er los auf das Gebrechliche, Liebliche, und: »A lor! A lor!« schrie er und haute ein auf die Inschriften an den Wänden, daß die zierlichen, farbigen Steine sich lösten.
Ein stiller, dünner Herr im Priestergewand kam auf ihn zu, rührte ihm den Arm: Don Rodrigue.
Gemeinhin machte der Domherr lieber einen Umweg, als daß er an dem Castillo vorbeiging; er fürchtete die Versuchung. Heute aber hatte er das helle, wüste Geschrei gehört, Angst hatte ihn herbeigezogen. Er hatte das weitoffene Tor gesehen, hatte gesehen, wie sich die Menschen hineinwälzten, wütig schreiend. War ihnen gefolgt. Sie hatten dem Priester Platz gemacht, und nun also fiel er diesem wohlgerüsteten Manne, der, obgleich sichtlich ein Ritter, an dem übeln Werke teilnahm, in den Arm.
Da der Mann ihm ein wildes, unwilliges Gesicht zukehrte, sagte er: »Ich bin Don Rodrigue, Mitglied des Kronrats.« Der Castro lächelte breit, herausfordernd: »Und ich, hochwürdigster Herr, bin Don Gutierre de Castro, Haupt des Geschlechtes, nach dem dieses Haus genannt ist.« Rodrigue erinnerte sich der Schutzmaßnahmen der Königin. Ein vager Verdacht stieg ihm auf. »Du läßt es zu, daß diese da plündern und zerstören?« fragte er. »Sollen gute Kastilier viel Federlesens machen«, fragte der Castro zurück, »wenn sie Verräter suchen? Nachdem die Blüte der christlichen Ritterschaft erschlagen ist, kommt es wohl auf ein paar jüdische Teppiche und Pergamentrollen nicht an.« Rodrigue fragte: »Bist nicht du es, der Weisung hat, die Bedrohten zu schützen?« Gutierre schaute dem Priester ruhig ins Gesicht. »Ja«, erwiderte er, »und ich werde der Frau Königin den Handschuh guten Gewissens zurückgeben können. Ich habe ihre Weisungen aufs Wort erfüllt. Ich habe den Zorn des Volkes sich austoben lassen gegen den einzelnen, Schuldigen, und der großen Masse jener geholfen, die man zu Unrecht verdächtigt.« Rodrigue, bestürzt, ungläubig, fragte: »Das wäre dein Auftrag?« – »So geht der Befehl der Königin«, sagte Gutierre.
Rodrigue, in jäher Angst, fragte: »Was ist es mit Don Jehuda? Ist dem Escrivano was geschehen?« Der Castro hob die Schultern, ausdrucksvoll, verächtlich. »Hier jedenfalls nicht«, antwortete er. »Der Hund hat sich verdrückt, scheint es.« Rodrigue atmete auf. Es war, wie er vermutet hatte: Don Jehuda hatte sich in Sicherheit gebracht.
Er raffte sich zusammen. »Du bist Kreuzritter«, sagte er. »Ich ermahne dich im Namen der Kirche, dem schändlichen Unfug Einhalt zu tun.« Der Castro schaute um sich und sah, daß nicht mehr viel da war, was hätte zerstört werden können. »Es steht dem Priester an, milde zu sein«, sagte er mit gutartigem Spott und gab seinen Leuten Befehl, die Gäste aus dem Haus zu treiben. Es geschah.
Don Gutierre verabschiedete sich höflich von dem Domherrn, beschaute noch einmal das getane Werk und ging, voll der freudigen Erwartung, diese Stätte heidnischer Üppigkeit ins Castillo de Castro zurückzuverwandeln. Rodrigue blieb zurück in dem verwüsteten Haus. Er hörte, wie die letzten abzogen, wie das große Tor mit dumpfem Lärm geschlossen wurde. Fast quälend drang die plötzliche Stille auf ihn ein. Er hockte nieder inmitten der Trümmer und Scherben, voll schwerer, schmerzhafter Müdigkeit. Hockte lange. Stand auf, schleppte sich durch die vertrauten Räume. Risse, Löcher, Trümmer starrten ihn an, von allen Seiten. Er ging weiter herum in dem öden Haus; er mühte sich, leise aufzutreten, er wußte nicht, warum. Er klaubte Scherben vom Boden, Stücke von Möbeln, Stoffen, beschaute sie, schüttelte den Kopf. Verschmutzt, zerrissen lag da ein Buch. Er nahm es auf, versuchte die Blätter zu glätten, die zerrissenen Seiten zusammenzustücken, er las mechanisch, es war die »Ethik« des Aristoteles.