Sie folgten Belardo ins Haus, der Castro, seine Soldaten, einige aus der Menge, nicht viele. Gelangten in den Raum Raquels. Mit einemmal lag die Hitze des Gartens, die blendende Weiße der Mauer, der Staub der Straße, die man schwitzend und lärmend gezogen war, meilenweit hinter ihnen, und um sie war die Stille des kühlen, dämmerigen, fremdartigen Raumes. Sie hielten sich in der Nähe des Eingangs, ernüchtert, leicht verwirrt.
Die Estrade, auf der Jehuda und Raquel saßen, war durch ein niedriges, in der Mitte weit offenes Geländer von dem übrigen Raum getrennt. Jehuda, als sie kamen, erhob sich langsam; da stand er, eine Hand leicht auf das Geländer gestützt, und musterte die Eindringlinge, gelassen, fast spöttisch, wie es dem Castro schien. Raquel war nicht aufgestanden. Sie saß, die Stirne halb bedeckt von dem kleinen Schleier, auf ihrem Diwan und schaute, auch sie ruhigen Auges, auf den Castro und die Seinen. Vom Pátio her hörte man das leise Plätschern des Springbrunns und, sehr weit und gedämpft von der Straße her, den Lärm der Menge. Sie wiederholten immer das gleiche, die draußen, doch konnte man’s nicht verstehen. Der Castro verstand; er wußte, sie schrien: »Gott will es!« Und: »Matad, matad! Schlagt tot!«
Jehuda sah die rohen Gesichter der Soldaten und ihres Führers, er sah den schlauen, furchtsamen, höflichen, dummen Gärtner Belardo und sogar auf dessen Gesicht die Gier, zu töten, er ahnte, was das Geschrei draußen bedeutete, er wußte, er hatte nicht mehr viele Minuten zu leben. Furcht würgte ihn. Er suchte sie zu vertreiben durch Denken. Zu einem jeden kommt der Zerstörer aller Dinge, und er selber hat es so gewollt, daß er hier und jetzt zu ihm komme. Er hat schon vor Tagen seine Rechnung abgeschlossen. Er hat viel Eitles getan, und manches Gute nur deshalb, weil er mehr hat sein wollen als die andern. Aber es war ihm erlaubt: er war mehr als die andern. Er sah die Spruchbänder ringsum, sie rühmten den Frieden. Er hat der Halbinsel Jahre hindurch Frieden und Blüte bewahrt. Und noch sein Sterben wird manchem zum Segen. Diese armen Mörder werden sehr bald bereuen, was sie tun; sie werden sich nicht an andere heranwagen, er wird gestorben sein zum Segen seiner fränkischen Flüchtlinge. Dann würgte von neuem eisige Furcht ihm das Denken ab. Sein Gesicht aber blieb die gleiche stille, leicht spöttische Maske.
Auch Raquels Gesicht blieb ruhig. Alfonso hatte ihr aufgetragen, in der Galiana zu bleiben, Alfonso war hier der Herr, was konnte dieser fremde Mensch ihr tun? Sie befahl sich, furchtlos zu sein, würdig Alfonsos; er wollte es, daß die Frau, die er liebte, furchtlos sei. Und er hatte ihr versprochen, zu kommen. Sie blieb reglos. Aber ihr Körper spürte den herannahenden Tod, und Angst schnürte ihr das Herz ab.
Die Eindringlinge standen noch immer an den Wänden und wußten nicht, was tun. Eine halbe Minute hindurch, eine Ewigkeit hindurch, tat keiner den Mund auf.
Da, mit einem Male, pludderte Belardo: »Der edle Herr wollte nicht gemeldet werden, Dame.«
Und jetzt sprach auch der Castro: »Stehst du nicht auf, Jüdin, wenn ein Ritter zu dir kommt?« sagte er mit seiner derben, quäkenden Stimme. Raquel antwortete ihm nicht. Plötzlich überkam ihn Zweifel. »Oder bist du Christin?« fragte er. Dann hätte er hier nicht eindringen dürfen. Aber Belardo beruhigte ihn. »Unsere Herrin Doña Raquel ist keine Christin«, sagte er.
Der Castro rötete sich. Es verdroß ihn, daß er sich von ihrer gespielten Vornehmheit hatte hereinlegen lassen. Raquel gewahrte seine aufsteigende Wut, und plötzlich war ihr, als stehe ihr der wütende Alfonso gegenüber – ja, das war das in maßloser Wut verzerrte Gesicht Alfonsos. Sofort aber verwehte es, und sie sah jenen Alfonso, der gegen den Stier gekämpft hatte, strahlend, wunderbar. Sie darf ihrem Alfonso keine Schande machen in dieser entscheidenden Stunde. Wenn sie ihm erzählen, wie der wüste Mensch dort auf sie losging, dann sollen sie ihm auch erzählen müssen: Aber Raquel hat keine Furcht gehabt.
Langsam, mit kindlicher und doch sehr damenhafter Bewegung, erhob sie sich.
Es war aber nicht der wüste Ritter, vor dem sie aufstand, es war der Tod.
Da stehst du, Doña Raquel Ibn Esra, du Schöne, La Fermosa, Sturmvogel des Satans, Kebsweib des Alfonso von Kastilien, selber aus dem Geschlechte David, Mutter des Immanuel. Dein herzförmiges Gesicht ist wissender als früher, und wenn es jetzt die Farbe der Angst haben sollte, so ist sie verborgen unter dem matten Braun deiner Haut. Deine blaugrauen Augen, noch größer als sonst, schauen ins Weite, vielleicht in ein schauerlich Leeres, vielleicht in ein sehr Helles, Hohes, Erwünschtes.
Der Castro trachtete, sich zurechtzufinden. Es war alles sehr anders, als er sich’s vorgestellt hatte, und dies war das Haus des Königs, und die Frau, wenngleich eine Jüdin, war das Kebsweib des Königs und hatte ihm einen Bastard geboren.
Da aber sprach endlich Don Jehuda. Gelassen fragte er, und er sprach lateinisch: »Wer bist du? Und was wünschest du?«
Der Castro schaute auf den Mann, den Juden, der ihm sein Haus gestohlen und sich hineingesetzt hatte, und der schuld war am Untergang seines Bruders, und der auf der Brust die Platte mit dem Wappen Kastiliens trug, und der sich erdreistete, höflich, hochmütig und lateinisch zu ihm zu reden, als spräche ein Ritter zum Ritter. Er warf sich in die Brust und antwortete in einem Gemisch von Aragonisch und Kastilisch: »Ich bin der Castro, Jud, und damit weißt du alles.« Jehuda schaute ihn an mit ganz leisem Spott, wie es in seiner stolzesten Zeit seine Art gewesen war, und sagte freundlich: »So hab ich mir dich vorgestellt.«
Dann kehrte er sein Gesicht von dem Castro ab und vergaß ihn sogleich. Er sah auf seine Tochter, trank ihren Anblick ein, dachte an seinen Enkelsohn, den kleinen Immanuel. Alazar hatte er verloren, diese seine liebe Tochter verliert er in wenigen Minuten, nach wenigen Atemzügen wird er sterben: aber der Knabe Immanuel Ibn Esra lebt, den Feinden unerreichbar.
Auch Raquel dachte an ihren Sohn. Sie hatte Alfonso nicht verwandeln können, aber was an ihm gut war, lebte weiter. Wirr und von neuem, nicht in Worten, tauchte in ihr die Vorstellung des Messias auf, der das Wilde besiegt, den Stier, und der Frieden bringt über die Erde. Und sie sah den Blick ihres Vaters, und sie gab ihn zurück und sie sagte: »Du hast recht gehabt, mein Vater, da du Immanuel gerettet hast. Unser Immanuel wird leben. All mein Inneres ist voll Dank für dich.«
Eine Welle von Zärtlichkeit, Befriedigung, Stolz schwoll hoch in Jehuda. Allein sie brach sogleich. Und nun von neuem schnürte ihn die kalte Angst. Er fand noch Kraft, sich dem Osten zuzuwenden. Dann senkte er den Kopf, wehrte sich nicht länger und wartete darauf, den Schlag zu empfangen; er sehnte sich danach.
Der Castro hatte die hebräischen Worte Raquels nicht verstanden, aber er spürte: sie hatten keine Furcht vor ihm, diese da, sie verhöhnten ihn, und die Wut zerriß ihm die letzten Bedenken. »Will denn keiner ein Ende machen mit dem Gesindel?« schrie er. »Sind wir hergekommen, mit ihnen zu disputieren?« Er zog sein Schwert, stieß es aber sogleich zurück. »Ich will mein Schwert nicht beflecken mit dem hündischen Blut«, sagte er ungeheuer verächtlich. Gemessen, mit der flachen Scheide, schlug er dem abgewandten Jehuda den Schädel ein.
Raquel hatte all die Zeit her gewußt, daß sie und der Vater untergehen würden; ihr Verstand hatte es gewußt, ihr Körper hatte es gewußt, ihre schnelle Phantasie hatte aus hundert Märchen hundert Bilder des Untergangs zusammengetragen und verknüpft. Aber in ihrem Tiefsten hatte sie nicht an ihren Tod geglaubt. Noch als der Castro vor ihnen stand, hatte sie nicht daran geglaubt. Jetzt erst erkannte ihr Innerstes, daß kein Alfonso zu ihrer Rettung kommen, daß sie in den nächsten Minuten sterben werde, und es packte sie ein Grauen, grauenhaft über alle Namen. Sie erlosch, sie wurde zur leeren Hülle, in ihr war nichts als Angst. Es riß ihr den Mund auf, aber kein Schrei kam aus der erstickten Brust.