Alles, was sich in dem Zimmer mit der Estrade ereignet hatte, war ohne Lärm geschehen, dämmernd und seltsam gedämpft. Die finstern Begleiter des Castro waren, als er auf den Juden zuschritt, unwillkürlich noch weiter zurückgewichen, noch näher an die Wand. In das lautlose Sterben Jehudas hinein hörte man ihr starkes Atmen und, noch immer, das Plätschern des Springbrunns und den fernen Lärm derer an der weißen Mauer.
Da begann plötzlich die Amme Sa’ad zu schreien, schrill, sinnlos. Und nun, unversehens, hob der Gärtner Belardo die Waffe, und besessen, hingegeben, schlug er mit der heiligen Hellebarde seines Großvaters auf Raquel ein. Und nun drangen auch die andern vor, sie schlugen los auf Raquel, auf die Amme, auf Jehuda, schlugen noch, als sie sich längst nicht mehr regten, trampelten auf ihnen herum, keuchend.
»Genug!« befahl plötzlich der Castro. Sie verließen den Raum, sie warfen keinen Blick mehr zurück. Benommen, ein wenig taumelnd, dümmlich lachend, verließen sie das Haus. Einer der Soldaten des Castro, nicht ohne Mühe, löste die Mesusa von der Tür und steckte sie ein; er wußte noch nicht, ob er das Amulett zertreten oder zum eigenen Schutz behalten sollte. Sonst etwas im Hause des Königs anzutasten, wagte keiner.
Die draußen hatten gewartet in Hitze und Glast. Jetzt verkündete ihnen der Castro: »Es ist getan. Sie sind hin. Die Hexe und der Verräter sind hin.« Sie hörten es, wahrscheinlich mit Genugtuung. Aber sie zeigten diese Genugtuung nicht, sie schrien nicht, sie jubelten nicht. Eher waren auch sie betreten. »Ja«, brummelten sie, »nun ist also die Fermosa hin.«
Als sie die heiße, staubige Straße nach Toledo wieder hinaufstiegen, verflog ihnen Lust und Wut vollends. Die Torwächter fragten: »Nun, habt ihr nachgeschaut? Habt ihr sie gefunden?« Und: »Ja«, antworteten sie, »wir haben sie gefunden. Sie sind hin.« – »Recht so«, sagten die Torwächter. Aber ihr Vergnügen dauerte kurz, auch ihnen war die Wut verweht, sie waren für den Rest des Tages nachdenklich und eher verdrossen.
Niemand dachte mehr daran, den Juden etwas zuleide zu tun. Gutmütig verspottete man die in der Judería: »Warum verschanzt ihr euch denn so? Habt ihr Angst vor uns? Jedermann weiß doch, wie gut sich die Euern gehalten haben vor Alarcos. Wir gehören doch zusammen, wir und ihr, in dieser Not.«
Sechstes Kapitel
Don Alfonso hielt die Festung Calatrava unerwartet lange. Er war an der Schulter verwundet, nicht eben gefährlich, doch schmerzhaft, er fieberte häufig. Trotzdem lief und ritt er herum, kletterte in Rüstung die steilen Treppen der Wälle hinauf und hinunter, überwachte jede Einzelheit der Verteidigung. Die Offiziere beschworen ihn, er solle sich endlich nach seiner Hauptstadt durchschlagen; denn schon schwärmten die Moslems weit nach dem Norden vor, und die Straßen nach Toledo waren unterbrochen. Aber erst als es am Äußersten war, gab Alfonso die Festung auf, um sich mit dem größten Teil der Besatzung nach Toledo durchzukämpfen.
Das war ein Unternehmen, das Umsicht und Tapferkeit erforderte. Von seinen nahen Freunden war nur Estéban Illán bei ihm; den Erzbischof Don Martín und Bertran de Born, die beide verwundet waren, hatte man nach Toledo geschafft. Alfonso ließ sich nicht anmerken, wie verzweifelt er unter der Niederlage litt; er zeigte raschen Blick, Findigkeit, Entschlußkraft. Des Nachts aber, allein mit Estéban, stürmte und wütete er: »Hast du gesehen, wie sie alles verwüstet haben? Jetzt spür ich es: was da verheert und verbrannt ist, das bin ich selber; es ist ein Teil von mir wie mein Arm oder mein Fuß.«
Er stellte sich vor, wie es sein wird, wenn er jetzt nach Toledo kommt. Er dachte an das ruhige, hochmütige Gesicht Doña Leonors, und wieviel Widerwille und Verachtung wird hinter dieser klaren Stirn sein, wenn er nun nach seiner stolzen Ausfahrt so jämmerlich und mit Schande bedeckt vor sie hintritt. Er dachte hilflos rasend an die stille, spöttisch ehrerbietige Miene Jehudas. Er dachte an das beredte Gesicht Raquels. Hatte er nicht versprochen, ihr Sevilla zu schenken? Wo war Sevilla? Sie wird nicht danach fragen; zärtlich, demütig wird sie vor ihm stehen, ohne ein Wort des Vorwurfs, aber um sie werden matt und höhnisch ihre Inschriften vom Frieden glänzen.
Unversehens faßte ihn eine sinnlose Wut. Don Martín hatte recht, Raquel war eine Hexe, sie war es, die bewirkte, daß er dem Sohn die Taufe vorenthielt, sie hat seine innere Stimme in Lüge verwandelt. Aber sie soll ihn nicht länger behexen. Mag sie sich stumm winden und drehen und schmerzhafte Gesichter schneiden: er wird den Jehuda zwingen, den Sohn herbeizuschaffen, er wird den Knaben taufen, und wenn dann Raquel nicht länger in der Galiana bleiben will, die Tür steht weit offen, Alafia, Heil, Segen.
Während sich Alfonso auf solche Art mit Raquel auseinandersetzte, war Don Rodrigue auf dem Weg, ihm die finstere Botschaft zu bringen.
Es war nach dem Untergang des Jehuda und der Raquel eine sonderbare Lähmung über Rodrigue gekommen. Nun war ihm alles eingestürzt, woran er in dieser Welt hing, das Reich brach zusammen, die lieben Freunde waren grausig ermordet worden, und er selber, Rodrigue, trug mit die Schuld, weil er den König so lang auf dem übeln Weg hatte gehen lassen. Das Gefühl seines Versagens, seiner Nichtigkeit erdrückte ihn.
In seinem Innern überhäufte er Don Alfonso, dessen Leichtfertigkeit dem ganzen Lande Unheil brachte und Unheil einem jeden, der ihm nahekam, mit bitterer Schelte. Er wollte ihn nicht mehr sehen, wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Aber er liebte den Unseligen noch immer, und Pflicht und Mitleid trieben ihn, die grausige Nachricht selber zu überbringen. Vielleicht wird das Übermaß des Unglücks den Mann lehren, was Reue ist, und Rodrigue wollte ihn nicht allein lassen in der Stunde der Verzweiflung.
Ein abgezehrter, fieberischer Alfonso trat ihm entgegen. Wies ihn, da er sich nach seiner Verwundung erkundigte, ungeduldig ab. Stand vor ihm, gereizt, finster, höhnisch, und forderte ihn heraus: »Du hast recht gehabt, mein weiser Vater und Freund. Mein Heer ist vernichtet, mein Reich eingestürzt. Ich habe die vier Reiter der Apokalypse übers Land gebracht, genau wie du mir’s vorausgesagt hast. Das zu hören, bist du doch da. Nun also, ich geb dir’s zu. Bist du zufrieden?«
Rodrigue, gegen seinen Willen, spürte ein heißes Erbarmen mit dem Mann, der ihm da krank, zerfetzt und zerlumpt an Seele und Ansehen gegenüberstand. Aber er durfte nicht schwach werden, er mußte rütteln an der Seele dieses Alfonso, der, Gottes hadernder, rebellischer Vasall, noch immer nicht wußte, was Schuld und was Reue war. Rodrigue sagte: »Es hat sich Schlimmes ereignet in Toledo. Dein Volk hat Unschuldige haftbar gemacht für deine Niederlage, und niemand war da, die Unschuldigen zu schützen.« Und da ihn der König ohne Verständnis anstarrte, sagte er ihm ins Gesicht: »Sie haben Doña Raquel und Don Jehuda umgebracht.«
Was das Unglück nicht und nicht der Verrat, was die große Niederlage nicht hatte bewirken können, bewirkte diese Nachricht: Don Alfonso schrie. Er schrie auf, kurz und schrecklich. Dann fiel er um.
Eine große Welle Freundschaft schwemmte alle andern Überlegungen Rodrigues fort, er liebte ihn wie eh und je. Erschreckt bemühte er sich um ihn und rief nach dem Arzt.
Alfonso, nach einer langen Weile, erwachte aus der Ohnmacht, schaute sich um, fand sich zurecht, sagte: »Es ist nichts, es ist diese dumme Wunde.« Er hatte auch noch nichts gegessen an diesem Tag. In hastigen Schlucken trank er die Brühe, die man ihm brachte, und trieb den Arzt, der den Verband erneuerte, zur Eile. Dann schickte er alle fort und hielt nur Rodrigue zurück.
»Verzeih, mein Vater und Freund«, sagte er. »Ich sollte mich schämen, daß ich mich so gehenließ.« Und böse fuhr er fort: »Nachdem ich das Reich zerstört habe, sollte es mir auf einen Mann und eine Frau mehr nicht ankommen.« Und: »Ich hätte die beiden ohnedies weggeschickt«, sagte er grimmig. Aber sogleich widerrief er: »Niemals, niemals hätte ich Raquel weggeschickt! Und ich schäme mich auch nicht!« Er stöhnte, wütete, knirschte. »Es tut unchristlich weh. Ich sag es dir, Rodrigue, mein Freund: ich habe sie geliebt. Du kannst das nicht verstehen, du weißt nicht, was das ist, niemand weiß es. Ich selber hab es nicht gewußt, bevor sie mir in den Weg kam. Ich habe sie mehr geliebt als Leonor, mehr als meine Kinder, mehr als mein Reich, mehr als Christus, mehr als alles. Vergiß es, Priester, vergiß es gleich, aber einmal muß es heraus, einmal muß ich es sagen, dir muß ich es sagen: ich hab sie mehr geliebt als meine unsterbliche Seele.«