Mit geschlossenen Augen lag er. Er wußte, es war ein Espejismo, ein Luftbild, ein Fieberbild, er wußte, Raquel war tot. Aber die tote Raquel war heißer lebendig als jemals die lebende. Und während sie ihn unverwandt ansah, begriff er: in seinem Innern hatte er ihre stumme Beredsamkeit immer verstanden, er hatte sich nur verhärtet, er hatte sich zugesperrt und ihre Mahnung und Wahrheit nicht verstehen wollen.
Jetzt öffnete er sich ihrer Wahrheit. Jetzt begriff er, was ihm Raquel eh und je und vergeblich hatte klarmachen wollen: was Verantwortung hieß, was Schuld hieß. Er hatte ungeheure Macht in Händen gehabt und sie mißbraucht; er hatte ruchlos, gedankenlos damit gespielt wie ein Knabe. Er hatte seinen Wein zu Essig gemacht.
Raquels Bild wurde undeutlich. »Geh nicht, geh noch nicht!« bat er, aber hier war nichts, was er hätte halten können. Das Bild verwehte.
Er war erschöpft und plötzlich sehr hungrig. Mühsam erhob er sich, ging ins Haus. Befahl, daß man ihm zu essen bringe. An dem Tisch, an dem er oft mit Raquel gefrühstückt hatte, saß er und aß. Mechanisch, gierig, wölfisch. Dachte an nichts als an Sättigung.
Kraft kehrte ihm zurück. Er stand auf. Er fragte nach der Amme Sa’ad; er wollte sich gewisse Bleibsel Raquels zeigen lassen. Man drückte herum, sagte ihm schließlich, daß Sa’ad tot war. Er schluckte. Wollte mehr wissen. »Sie hat furchtbar geschrien«, erzählte Belardo. »Aber Unsere Herrin Doña Raquel hat keine Furcht gehabt. Sie ist dagestanden wie eine richtige große Dame.«
Alfonso ging durchs Haus. Stand vor jener Inschrift, deren altarabische Lettern er nicht lesen konnte und die sie ihm übersetzt hatte: »Eine Unze Frieden ist mehr wert als eine Tonne Sieg.« Ging weiter. Öffnete Schränke, Truhen. Betastete Kleider Raquels. Dieses helle Kleid hatte sie angehabt damals, als sie mit ihm Schach spielte, und dieses ganz zarte Zeugs, das ihm beinahe in den Fingern zerriß, hatte sie getragen, als die Hunde an ihr hinaufsprangen. Aus der Truhe kam der Duft der Kleider, Raquels Duft. Er warf den Deckel zu. Er war nicht Lanzelot.
Er fand jene Briefe, an ihn gerichtet und nie abgesandt. »Du setzest dein Leben ein für törichte Dinge, weil ein Ritter so tun soll, und das ist sinnlos und hinreißend, und darum liebe ich dich.« Er fand Zeichnungen, die Benjamín gemacht hatte. Er betrachtete sie aufmerksam, er fand Züge, die er an der lebendigen Raquel nie entdeckt hatte. Aber trotzdem: dieser Benjamín hat nur einen Teil von Raquel gesehen, die wahre Raquel hat nur er gesehen, Alfonso, und erst jetzt, da sie nicht mehr auf der Erde war.
Aber in der Welt war sie. In ihm lebte weiter das erfüllte Wissen, das ihm vorhin jenes stumme Antlitz mitgeteilt hatte. Die Mahnungen Rodrigues hatten ihm nur gesagt, was Schuld und Reue sei, sie hatten es ihn nicht spüren machen. Auch seine innere Stimme hatte es ihn nicht spüren machen. Erst jenes stumme Gesicht hatte ihm ins Herz geprägt, was das ist: Verantwortung, Schuld, Reue.
Er raffte sich zusammen. Betete. Ein lästerliches Gebet. Betete zu der Toten, sie möge ihm erscheinen in Stunden der Entscheidung, auf daß ihre Stummheit ihm sage, was er tun und was er lassen müsse. Gutierre de Castro stand vor dem König mit gespreizten Beinen, die Hand auf dem Knauf des Schwertes, in Haltung.
»Was willst du, Herr König?« fragte er mit seiner etwas quäkenden Stimme. Alfonso schaute dem Mann in das breite, derbe Gesicht. Der Castro schaute ruhig zurück; Furcht hatte er nicht, soviel war gewiß. Dem König war alle Wut verflogen, er wußte nicht mehr, warum er sich mit so grimmiger Wollust danach gesehnt hatte, den Mann hängen zu sehen. Er sagte: »Du hattest Auftrag, das Volk meiner Stadt Toledo zu schützen. Warum hast du es nicht getan?« Der Castro, frech und kalt, erwiderte: »Die Leute waren gereizt durch deine Niederlage, Don Alfonso, sie waren streitlustig, mordlustig. Sie wollten die Schuldigen erschlagen, und sie hielten sehr viele für schuldig. Aber es sind nur wenige umgekommen, keine hundert. Ich konnte der Frau Königin den Handschuh guten Mutes zurückgeben, gewärtig ihrer Zufriedenheit und ihres Dankes.«
Don Alfonso sagte: »Du bist in die Galiana gezogen an der Spitze eines Haufens von Gesindel und hast meinen Escrivano erschlagen und die Mutter meines Sohnes.« Er sprach hart und bündig, doch sehr ruhig. Der Castro antwortete: »Dein Volk verlangte Bestrafung des Verräters. Die Kirche verlangte seine Bestrafung. Mein Amt war, Unschuldige zu schützen. Dieser da war ein Schuldiger.« Der König wartete darauf, daß sich der Castro nun auf jenen dünnen und blutigen Hinweis der Königin berufen und die Verantwortung von sich abschieben werde. Der Castro tat es nicht. Vielmehr fuhr er fort: »Ich sag dir’s offen: ich hätte ihn hingemacht, auch wenn er kein Verräter gewesen wäre. Ich bin Gutierre de Castro und habe seit Jahren mir selber und der Ritterschaft Hispaniens versprochen, den beschnittenen Hund zu züchtigen, der mein Castillo besudelt hat.« Der König sagte: »Der Streit zwischen dir und der Krone Kastiliens war bereinigt, die Buße für deinen Bruder bezahlt. Der Vertrag war unterzeichnet und besiegelt, dein Anspruch beglichen.« Der Castro sagte: »Ich will nicht rechten mit dir, Herr König von Kastilien. Wenn du glaubst, eine gute Klage wider mich zu haben, dann klage bei meinem Lehnsherrn, dem König von Aragon, daß er, der nicht mehr ist als ich, das Gericht der mir Gleichen einberufe. Eines aber laß mich dir sagen, als Ritter dem Ritter. Durch dich ist mein Bruder umgekommen, der ein großer Held war im Krieg und im Tournier, du weißt es, und du hast mir eine Buße Geldes bezahlt, und ich war es zufrieden, weil Heiliger Krieg ist. Jetzt hat es sich gefügt, daß ich einen Menschen erschlug, der mir Schimpf angetan hatte und nichts war als dein Bänker und ein alter Jude. Ich glaube, du fährst nicht schlecht, wenn du die Rechnung abschließt.«
Der König ging darauf nicht ein. Er forderte ihn auf: »Sag mir, wie es hergegangen ist.« Der Castro antwortete: »Ich habe mein Schwert nicht mit dem schlechten Blut besudeln wollen. Ich habe den Menschen mit der Scheide totgeschlagen.« Alfonso, mit Mühe, er mußte Pausen machen zwischen den einzelnen Worten, fragte: »Und wie ist sie umgekommen?« – »Ich kann es dir nicht sagen«, antwortete der Castro. »Mein Aug war auf den Juden gerichtet, als sie sie hinmachten.« Er sprach gleichgültig, seine Rede trug die Farbe der Wahrheit. Und derb, aufrichtig, fast gutartig fuhr er fort: »Es ist Heiliger Krieg, und ich habe den Groll meines Herzens unterdrückt und bin hierhergekommen, um für dich zu kämpfen. Laß es gut sein, Herr König von Kastilien. Es ist harte Arbeit zu tun ringsum. Ein Ritter sollte kein Wort mehr verlieren über den Unrat, der ausgekehrt ist. Sorge für deine Stadt und ihre Wälle.«
Alfonso merkte mit Verwunderung, daß ihn die Frechheit des Mannes nicht erzürnte. Der Mann hatte wirklich nichts erwähnt von dem zweideutigen Auftrag Doña Leonors, er schob der Dame keine Schuld zu, er stand selber ein für alles, was geschehen war. Sieh an, er ist ein Ritter, dieser Castro, dachte Alfonso. Der früher so rege, immer tätige Domherr Don Rodrigue besorgte seine Amtsgeschäfte lustlos, raffte sich selten auf, zu lesen oder zu schreiben, hockte herum, trüb und einsam.
Musa konnte ihm nur wenig Gesellschaft leisten. Es gab viele Kranke und Verwundete in Toledo, Musas ruhiges, sicheres Wesen flößte Vertrauen ein, und trotz des Argwohns gegen den Moslem verlangten viele nach seiner berühmten Heilkunst.
Rodrigue beneidete den Freund um die stete Tätigkeit, die ihn von quälenden Gedanken ablenkte, er selber versank immer tiefer in triste Meditationen über die Vergeblichkeit alles Tuns, er war gelähmt im Innersten.
Aus Italien hatte man ihm eine Schrift gesandt, die seiner eigenen Verzweiflung Wort gab; ein junger Prälat hatte sie verfaßt, Lotario de Conti, sie hieß: »De conditione humana – Von der Beschaffenheit des Menschen.« Eine Stelle vor allem drückte sich ihm ein: »Wie nichtig bist du, o Mensch. Wie übel steht es um deinen Leib. Schau auf die Pflanzen und Bäume. Sie bringen Blüten hervor, Blätter, Früchte; du aber, weh dir, du bringst hervor Läuse, Ungeziefer, Gewürm. Jene scheiden aus Öl, Wein, Balsam; du scheidest aus Harn, Speichel, Kot. Jene hauchen aus liebliche Düfte; du gibst Gestank von dir.« Die Sätze ließen Rodrigue nicht los, sie verfolgten ihn bis in seinen Schlaf.