Er sehnte sich kaum mehr nach der stillen Verzückung, die ihm früher letzte Zuflucht gewesen war. Jener inbrünstige, vollkommene Glaube schien ihm jetzt nicht mehr Gnade, sondern billige Betäubung, armselige Flucht aus der Wirklichkeit.
Erleichterung war ihm, daß sich zuweilen Don Benjamín einstellte. Der junge Mensch führte inmitten des eigenen und des allgemeinen Elends das Werk der Akademie mit zäher Gelassenheit weiter. Der Domherr staunte über Benjamíns Willenskraft, seine Besuche verscheuchten ihm die ätzende Melancholie.
Einmal bat er den Schüler: »Wenn es dich nicht zu tief aufwühlt, dann laß mich doch wissen, was geschah und was gesprochen wurde, als du das letztemal in der Galiana warst.«
Benjamín schwieg. Schwieg so lange, daß Don Rodrigue bereits glaubte, er werde nicht antworten. Dann aber fand er heiße Worte, Raquel zu preisen, wie schön sie gewesen sei an diesem ihrem letzten Tag. Und er trug keinen Anstand zu erzählen, daß sie den Schutz der Judería nur deshalb verschmäht hatte, weil ihr vom König aufgetragen war, in der Galiana auf ihn zu warten. Aus seinen Worten sprach der Grimm über die ergebene Glut, mit der sie an ihren Ritter und Liebsten geglaubt hatte.
Den Domherrn erschütterte der Bericht. »Du weißt nicht, was das ist: Liebe«, hatte der König zu ihm gesagt, aber er selber wußte es nicht. Alfonso hatte Raquel »geliebt«, es war Sturm, Gewalt, Gewitter gewesen, aber er war eingesperrt geblieben in sich selber, er hatte nicht mit ihr gefühlt. Da hatte dieser unheilvolle Mensch, dieser Ritter ganz und gar, ein Wort hingeworfen, wahrscheinlich hatte er’s vergessen, kaum daß es gesprochen war, und das flüchtige Wort hatte Raquel in den Tod getrieben. Was immer seine leichtfertige Kühnheit unternahm, schlug zum Unheil aus.
Ein paar Tage später, ein wenig befangen, brachte Benjamín dem Domherrn eine Zeichnung. Er hatte den König aus der Nähe gesehen, er hatte wahrgenommen, wie sehr sich Alfonso verändert hatte; das im einzelnen zu ergründen, hatte er den König gezeichnet, und nun, verlegen und gespannt, brachte er das Bild dem Domherrn.
Der beschaute es, lange. Sah den Kopf eines Mannes, der vieles erfahren und vieles gelitten hatte, aber doch eines Ritters Kopf, eines unbedenklichen, ja, harten und grausamen Mannes Kopf. Er dachte an das Bild des Königs, wie er selber es, in Worten, in seiner Chronik gezeichnet hatte, er dachte an den Kopf des Königs, wie er geprägt war auf den Goldmünzen des Jehuda. Er legte die Zeichnung beiseite. Ging auf und ab. Nahm sie von neuem auf und beschaute sie. Sagte, wunderlich angerührt: »Das also ist König Alfonso von Kastilien.«
Benjamín, betroffen über die Wirkung seiner Zeichnung, sagte: »Ich weiß nicht, ob Alfonso so ist. In meinem Kopfe ist er so.« Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Ich glaube nun einmal, daß es besser um die Welt stünde, wenn sie von Weisen geführt würde statt von Kriegern.«
Der Domherr bat ihn, die Zeichnung dazulassen, und lange noch, nachdem Benjamín gegangen war, grübelte er über dem Blatt.
Seine Freundschaft mit Benjamín wurde immer enger. So vertraut mit ihm wurde er, daß er ihn in den eigenen Kleinmut hineinschauen ließ. »Jung an Jahren, wie du bist«, sagte er, »hast du gleichwohl zur Genüge erfahren, wie Dummheit und wüste Wut immer von neuem wegspült, was die Erkenntnis und die Arbeit von Jahrhunderten aufgerichtet haben. Trotzdem läßt du nicht ab, zu grübeln, zu forschen, dich zu plagen. Scheint es dir noch der Mühe wert? Und wem nützt deine Mühe?«
Auf dem Gesicht Benjamíns leuchtete jene fröhliche Verschmitztheit auf, die es früher so jung und liebenswert gemacht hatte. »Du willst mich prüfen, mein hochwürdiger Vater«, antwortete er, »aber du weißt meine Antwort voraus. Gewiß, die Finsternis ist das Übliche und das Licht die Ausnahme. Doch gerade in der ungeheuern Masse Unlicht ist das bißchen Licht doppelte Freude. Ich bin nicht viel, aber ich wäre gar nichts, wenn ich diese Freude nicht spüren könnte. Ich habe die Zuversicht, daß das Licht bleiben und daß es sich mehren wird. Und meine Schuldigkeit ist, daß ich mein Winziges dazu beitrage.«
Den Domherrn beschämte die Zuversicht Benjamíns. Er holte seine Chronik heraus, zwang sich zur Sammlung, versuchte, zu arbeiten. Allein sogleich wieder wurde er inne, wie nichtig seine Bemühung war. Er hatte schaubar machen wollen das Walten der Vorsehung, er hatte tapfer und naiv das Sinnlose dargestellt, als ob Sinn darin wäre. Aber er hatte die Geschehnisse nur zerdacht und zerredet: erklärt hatte er sie nicht.
Wie beneidete er den Musa. Der hatte leicht arbeiten an seiner Chronik. Er hatte einen Leitsatz gefunden, die Ereignisse daran zu messen, den Satz vom Werden und Vergehen der Völker, von ihrer Jugend und ihrem Altern, und sein Allah und sein Prophet bestätigten ihn. In seinem Koran konnte er lesen: »Und ein jedes Volk hat seine Zeit, und wenn diese Zeit kommt, kann keiner sie keine Stunde verschieben noch beschleunigen.«
Ihm, Rodrigue, war es nicht geglückt, Sinn und Ordnung in den Ereignissen zu finden. Ihm wollte scheinen, als ob der rechte Glaube es verbiete, auch nur danach zu suchen. Hatte nicht Paulus den Korinthern geschrieben: »Die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind – Quod stultum est Dei, sapentius est hominibus«? Und hatte nicht Tertullian gelehrt, das größte Ereignis in der Geschichte, das Sterben des Gottessohnes, sei glaubwürdig, weil es ungereimt sei? Wenn nun aber die Wege Gottes nicht die der Menschen waren, wenn sie, mit Menschenaugen gesehen und mit Menschenverstand gemessen, närrisch erschienen, war dann nicht schon das bloße Bestreben sündhaft, mit Menschenworten das Walten der Vorsehung darzustellen?
Seit hundert Jahren kämpfte die Christenheit um das Heilige Land, tausend mal tausend Ritter waren umgekommen in diesen Kreuzzügen: gewonnen war so gut wie nichts. Was durch so viel blutiges Sterben erreicht war, das hätten drei vernünftige Gesandte durch die sachlichen Verhandlungen einer einzigen Woche erreichen können. Vor solchem Geschehen versagte freilich alle menschliche Weisheit und nahm jener Satz des Paulus, die Narrheit Gottes, to moron tu theu, τὅ μωϱὅν τοῦ ϑεοῦ, sei weiser als die Menschen, seine ganze höhnische Bedeutung an.
Gebeugt über seine Chronik, leise, böse, sagte Rodrigue vor sich hin: »Es ist alles eitel. Es ist kein Sinn in dem, was geschieht. Es gibt keine Vorsehung.«
Er erschrak vor seinen eigenen Worten. »Absit, absit! Fort damit! Das sei ferne von mir!« befahl er sich.
Aber wenn sein Zweifel an der Vorsehung Ketzerei war, so nicht die Erkenntnis von der Vergeblichkeit der eigenen Bemühung. Da war er am Pult gestanden und hatte gekritzelt und geschmiert den Tag hindurch, auch viele Nächte hindurch, und hatte den Finger Gottes aufzeigen wollen in Ereignissen, deren Sinn nun einmal unergründlich blieb. Da hatte er sich vermessen, die großen Toten der Halbinsel neu zu beleben: den heiligen Ildefonso und den heiligen Julian, die Könige der Goten und die Kalifen der Moslems und die asturischen und kastilischen Grafen und den Kaiser Alfonso und den Cid Compeador. Er hatte sich eingebildet, er sei ein zweiter Prophet Ezechiel, auserwählt, diese Toten zu beschwören, daß sie aufstünden: »Ich will euch Adern geben und Fleisch über euch wachsen lassen und euch mit Haut überziehen und euch Odem einhauchen, daß ihr wieder lebendig werdet.« Aber die Gebeine, die er beschwor, hatten sich nicht wieder zusammengefügt. Sie lebten nicht, die Menschen seiner Chronik; was sie vollführten, war ein klappernder Tanz angestrichener Gerippe.
»Du sollst den Blinden nicht irreführen«, mahnte die Schrift. Genau das hatte er getan. Seine Chronik führte die Blinden noch tiefer ins Dunkle.
Ächzend stand er auf. Holte Scheiter zusammen, häufte sie an der Feuerstätte, zündete sie an. Suchte zusammen die zahllosen Blätter seiner Chronik und seiner Aufzeichnungen. Warf sie ins Feuer, schweigend, mit sehr schmalen Lippen. Sah zu, wie sie verbrannten, Blatt um Blatt. Stocherte in den verkohlenden Pergamenten und Papieren, bis sie Asche waren, die niemand mehr lesen konnte. Bertran de Born, da ihm seine Verwundung die weitere Teilnahme am Krieg verbot, begehrte fort aus Toledo in seine Heimat. Er wollte seine letzten Jahre als Mönch verbringen, im Kloster Dalon.