Alfonso fühlte sich erniedrigt und vereitelt. Aber, gegen seinen Willen, ließ er nicht ab und sagte: »Ich glaube dir, und ich glaube dir nicht. Ich fürchte: auch wenn ihr was wißt, werdet ihr mir’s nicht sagen. Es nagt mir an der Seele, ich gesteh es dir, daß mein Sohn unter euch groß werden soll und in euern Sitten. Ich sollte euch hassen dafür, und manchmal hab ich euch gehaßt.«
Ephraim sagte: »Nochmals frag ich dich, Herr König, willst du wirklich, daß ein Mann, über den du so denkst, deine und deines Landes Geschäfte in Sevilla führt?«
Der König sagte: »Ich hegte manchmal auch vor Don Jehuda Argwohn und habe doch gewußt, daß er mein Freund war. Du bist alt und erfahren und kennst die Menschen und verstehst, wie das ist. Ich will, daß du für mich nach Sevilla gehst. Ich weiß, ich habe keinen Besseren zu schicken.«
Ephraim spürte ein Mitleid, das nicht ohne Genugtuung war. Er sagte: »Es kommt vielleicht einmal die Zeit, da sich der oder jener melden wird und behauptet, er sei der Verschwundene. Ich rate dir, Herr König, kümmere dich nicht darum. Wahrscheinlich wird Betrug dahinterstecken. Überlaß es uns, zu erforschen, ob es so ist, und beschwere du dich zu deinen vielen andern Sorgen nicht noch mit dieser. Bescheide dich, Don Alfonso. Du hast wohlgeratene Töchter, edle Infantinnen, die einmal große Königinnen sein werden. Deine Enkel werden sitzen auf den Thronen Hispaniens und mit der Hilfe Gottes die Länder der Halbinsel vereinigen.« Und dunkel, doch der König verstand ihn, schloß er: »Don Jehuda Ibn Esra ist tot, sein Sohn und seine Tochter sind tot. Wenn wer aus seinem Geschlecht geblieben ist, dann nur dieser Enkel. Und Don Jehuda ist aus dem Islam zurückgekehrt in das Judentum seiner Väter, und das ist sein Vermächtnis.« Don Alfonso spürte, was es bedeutete, daß er den Krieg, mit dem er nicht fertig geworden war, durch Ephraim abwickeln ließ, den Juden, den Kaufmann. Er hatte sein bedenkenloses Rittertum fahrenlassen, hatte Abschied genommen von Bertran, hatte seine Vergangenheit, seine Jugend abgetan. Er bereute es nicht, aber er spürte fast leibhaft den Verzicht, die Leere.
Auf der Straße, die er jetzt einschlug, lockten keine geheimnisvollen Nebenwege, sie führte zu keiner blauen, schimmernden Ferne, sie lief kahl und nüchtern geradeaus zu einem braven, soliden Ziel. Aber nun er sie einmal eingeschlagen hatte, war er willens, sie zu Ende zu gehen. Er wird sich selber Ketten anlegen, auf daß er den bittern Frieden, den er auf sich nahm, nicht durch süße und heldische Abenteuer gefährde.
Eine Nacht lang schlief er nicht. Wog, verwarf, wog von neuem, beschloß, verwarf.
Beschloß.
Eröffnete dem Rodrigue, mit einem ganz kleinen Lächeln, er wolle nun endlich die erledigten Bistümer von Avila, Segovia, Sigüenza neu besetzen, und zwar wolle er ihm, Rodrigue, das Bistum Sigüenza übertragen.
Rodrigue, unwillig erstaunt, fragte: »Willst du den lästigen Warner los sein?« Alfonso lächelte stärker, und es stand in seinen Zügen die abgelebte knabenhafte Anmut und Schalkheit wieder auf. »Dieses Mal«, sagte er, »mißtraust du mir zu Unrecht, mein ehrwürdiger Vater. Nicht fort will ich dich haben, ich will dich enger an mich binden. Aber wenn ich recht unterrichtet bin, erlauben es die Kirchengesetze nicht, daß ein Domherr ohne Zwischenstufe zum Erzbischof von Toledo aufsteigt.«
Stürmisch und widerspruchsvoll jagten sich dem Rodrigue die Gedanken. Ihn wollte Alfonso zum Primas von Hispanien machen! Er war gut im Rate, doch von einer solchen Erhöhung hatte der bescheidene Mann niemals geträumt; es hatte ihn höchlich gewundert, daß damals Don Martín dergleichen befürchtet hatte. Fortan also sollte er nicht nur raten und meinen: er sollte verfügen über die reichsten Einkünfte des Landes, er sollte gewichtig mitentscheiden über Krieg und Frieden. Die Vorstellung betäubte ihn. Was da auf ihn niederging, war Segen und Gnade und schwerste Last.
Alfonso sah Rodrigues bewegtes Gesicht, und halb scherzhaft, halb im Ernst sagte er: »Auf ein paar Monate freilich wirst du nach Sigüenza gehen müssen, und ich werde dich nicht sehen können. Der Heilige Vater ist ein harter Händler; so schnell krieg ich ihn nicht dazu, daß er dir das Pallium gibt. Aber ich will mir’s was kosten lassen, und am Ende werde ich es schaffen. Ich will dich zum zweiten Mann im Reich haben«, fuhr er fort mit knabenhaftem Eigensinn. »Du hast mir die hispanische Zeitrechnung abgeschafft, aber ich will dich zum Primas von Hispanien haben.«
Musa, als er von der neuen Wendung erfuhr, war bestürzt. Rodrigue wird nach Sigüenza gehen. Wie soll er, Musa, der Moslem, der von vielen angefeindete, in Toledo weiterleben ohne den Schutz des Domherrn? Er wird unstet und flüchtig sein und freundlos, nicht das erstemal. Kahl und unwirtlich lag die letzte Strecke seines Lebens vor ihm.
Allein der weise, menschenkundige Mann vergaß über der eigenen Bedrängnis nicht den Segen, den der Umschwung dem Domherrn brachte, und er fand Worte warmer Teilnahme. »Die vielerlei Geschäfte deines neuen Amtes«, sagte er, »werden dich schnell der Acedia entreißen, dem trübseligen Brüten dieser letzten Monate. Du wirst Entscheidungen treffen und Taten tun, die viele Schicksale bewegen. Und diese Arbeit«, fuhr er angeregt fort, »wird dich, hoffe ich, anspornen, auch deine Chronik wieder aufzunehmen. Ja, mein hochwürdiger Freund«, schloß er nachdenklich heiter, »wer Geschichte macht, wird bestimmt auch versucht sein, sie darzustellen.«
Nun hatte sich in der Tat, kaum hatte der König ihm das Erzbistum angeboten, im Kopfe Rodrigues eine solche Versuchung geregt. Erst hatte sich Don Alfonso belastet mit dem bedächtigen Mahner Ephraim, jetzt machte er sich aus eigenem Antrieb abhängig von ihm, Rodrigue, dem unritterlichen, friedliebenden Manne. Nur ein Alfonso, der sich von innen her gewandelt hatte, konnte sich eine solche zwiefache Rute binden. Aus dieser Erkenntnis aber war dem Rodrigue eine kleine neue Zuversicht gewachsen und ein seliges Spüren und Ahnen, daß, all seiner trüben Klügelei zum Trotz, Sinn gewesen sein mochte in dem grauenvollen Geschehen dieses letzten Jahres. Allein er verwehrte sich’s, diesen Empfindungen nachzuhängen, er erlaubte ihnen nicht, sich zu klaren Gedankengängen zu verdichten, er wollte keine zweite Enttäuschung erleben.
Geradezu hitzig erwiderte er dem Musa: »Auch nicht im entferntesten denke ich daran, meine Chronik wieder aufzunehmen. Ich habe all mein Material zerstört, du weißt es.« – »Deine Akademie kann dir Material binnen nicht zu langer Frist neu beschaffen«, antwortete gelassen Musa. »Auch aus meinem Material kann dir vieles dienlich sein. Ich stell es dir gerne zusammen. Leicht freilich«, fuhr er fort, erlöschenden Gesichtes, »wird es nicht sein, mit dir in Verbindung zu bleiben. Wer weiß, in welchem Erdenwinkel ich mich verbergen muß, wenn ich deinen Schutz nicht mehr habe.«
Zuerst verstand ihn Rodrigue nicht. Dann ereiferte er sich: »Aber was hast du dir denn gedacht? Selbstverständlich kommst du mit nach Sigüenza.«
Musa leuchtete auf. Seine moslemische Höflichkeit indes gebot ihm, Einwände zu machen. »Werde ich nicht«, sagte er, »im Bischofspalast von Sigüenza sehr befremdlich wirken? Die unter deinem Krummstab wohnen, werden sich wundern über den beschnittenen Hausgenossen.« – »Mögen sie!« antwortete kurz und grimmig Rodrigue.
Musa, noch immer das breite, glückliche Lächeln über dem häßlichen Gesicht, fuhr fort: »Auch muß ich dich darauf aufmerksam machen, daß du jetzt erst recht deine liebe Not mit mir haben wirst. Denn fortan werde ich dir bestimmt keine Ruhe lassen, ehe du dich wieder an deine Chronik machst.«
Schon jetzt, noch in Toledo, wetzte er dem Freund den Appetit und verwickelte ihn immerzu in weitläufige geschichtsphilosophische Debatten. Da stand er an seinem Schreibpult, kritzelte und sagte über die Schulter: »Es ist kein Zufall, daß wir Moslems Toledo wieder haben aufgeben müssen, nachdem wir es schon so gut wie in der Hand hatten. Unsere Zeit, die große Zeit unserer Macht, ist eben leider vorbei, und die innern Zwistigkeiten, die den Kalifen mitten im Sieg zurückriefen, werden sich wiederholen. Das ist so gewiß wie die mathematischen Regeln des Alcharesmi. Das Weltreich der Moslems, so mächtig es ausschaut, ist zu alt. Es ist brüchig.«