Wie sich’s Musa erhofft hatte, biß Rodrigue an. »Eure Zeit vorbei, wagst du zu sagen!« antwortete er. »Aber ihr habt doch gesiegt! Unser Heer ist vernichtet, eure Grenze läuft unmittelbar vor Toledo, unser stolzer Don Alfonso zahlt euch Tribut.« Er ereiferte sich. »Die Herrschaft der Moslems im Abstieg! Die große Zeit der Moslems vorbei! Dreimal in diesem Jahrhundert sind wir gegen euch angelaufen mit Heeresmassen, wie sie die Welt noch nie gesehen hat. Fünfhundert mal tausend christliche Ritter sind in diesen Kreuzzügen umgekommen, und tausend mal tausend Mann andern christlichen Volkes, von Tod, Seuchen und Elend in der Heimat zu schweigen. Und die Heilige Stadt ist heute genauso in euerm Besitz wie vor hundert Jahren. Und da klagst du, euer Reich verfällt!«
Musa erwiderte höflich: »Du stellst dich weniger weise, als du bist, mein hochwürdiger Freund. Du spannst die Historie weniger Jahrzehnte oder eines Jahrhunderts in einen Rahmen und tust, als wäre sie etwas Geschlossenes. Aber wir, du und ich, wir wollen doch nicht nur das Heute beschreiben und das bißchen Gestern, wir trachten doch, den Sinn der Ereignisse festzuhalten, wir wollen die Richtung der Geschehnisse erkennen und in die Zukunft weisen als wahre Kundschafter Gottes. Und da stellt sich denn, leider, heraus, daß eure Kreuzzüge keineswegs Mißerfolge waren. Gewiß, was ihr in diesem letzten Jahrhundert an Gebiet erobert habt, war die Opfer nicht wert. Aber dafür habt ihr wirtschaftliche Einsichten die Fülle gewonnen, das weißt du doch so genau wie ich, und unschätzbare politische und wissenschaftliche Erfahrungen. Wir haben euch gutmütig und eitel in unseren Fabriken herumgeführt, wir haben euch gezeigt, wie wir unsere Jugend erziehen, wie wir unsere Städte verwalten, wie wir Recht sprechen. Ihr seid eifrige Schüler gewesen und macht uns gut nach, was wir Gutes haben. Ihr habt begriffen, daß es in diesem Jahrhundert weniger auf die Ritter ankommt als auf die Wissenden und auf die Sachverständigen, auf Baumeister und Waffenschmiede und Ingenieure und Kunstfertige aller Art und gelernte Landwirte. Und ihr seid jung, ihr seid im Aufstieg, bald werdet ihr uns eingeholt und überflügelt haben. Ihr habt fünfhundert mal tausend Ritter verloren, aber die Besiegten seid nicht ihr.«
Er hatte die marklose Stimme gehoben. Aus seinen stillen, wissenden, etwas spöttischen Augen schaute er auf den Freund. Der schwieg. Er gab sich geschlagen, nicht ohne Genugtuung.
Solcher Gespräche führten die beiden noch manche, Streitgespräche, in denen, zu seiner Verwunderung, Rodrigue den Triumph der Ungläubigen behauptete, während Musa am Endsieg der Moslems verzweifelte.
Je länger aber Rodrigue über die Argumente des Freundes nachdachte, so stärker leuchteten sie ihm ein, so mehr Zuversicht gaben sie ihm. Er fühlte sich jung und neu. Nicht mehr quälte ihn jener Satz des Paulus an die Korinther, der die Torheit Gottes ausspielte gegen die Weisheit der Weisen. Statt dessen jubelte in ihm das andere Wort des Apostels: »Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden.« Statt des blinden Glaubens, der in seliger Verzückung aufging, war jetzt in ihm ein ahnendes Wissen, ein immer dichteres Gefühclass="underline" es ist trotz allem ein erkennbarer Sinn im Weltgeschehen. Noch konnte er dieses Gefühl nicht in folgerichtige Sätze umdenken. Er trachtete auch nicht nach Klarheit. Es genügte ihm, um den Sinn des Weltgeschehens so viel zu wissen, wie Augustin um das Wesen der Zeit gewußt hatte: »Wenn du mich nicht fragst, weiß ich es; wenn du mich fragst, weiß ich es nicht.«
Immer tiefer indes wirkten die Worte Musas in Rodrigue nach, und immer heißer verlangte es ihn, ein Kundschafter Gottes zu sein und die sinnvollen Wege des Geschehens aufzuspüren.
Trotzdem zögerte er, sich wieder an seine Chronik zu machen. Ein neues Bedenken hielt ihn ab. »Ich fürchte«, erklärte er dem Freund, »was mich zu diesem Werke lockt, ist weniger das Bestreben, Gott zu dienen, als schriftstellerischer Ehrgeiz.«
Musa machte sein listigstes Gesicht. Er schleppte ein Buch heran, »Das Leben des heiligen Augustin«, und las dem Rodrigue vor, was Possidius, ein Schüler des Heiligen, über dessen letzte Tage aufgezeichnet hatte. Augustin war damals Erzbischof der Stadt Hippo, die von den Vandalen belagert wurde; er sah von seinem Palast aus das karthagische Land weithin brennen. Er war sechsundsiebzig Jahre alt, sehr schwach und wußte, daß er sterben werde. Er trug Sorge für die belagerte Stadt und für die ganze, vom Feind überschwemmte Provinz. Gleichzeitig aber überlas er nochmals seine zahlreichen Bücher, korrigierte und änderte, auf daß von jedem seiner Werke ein als fehlerfrei befundenes Exemplar in der Bibliothek von Hippo hinterlegt werde. Auch suchte er noch ein Buch zu vollenden, bestimmt, die Schriften des Julian zu widerlegen. »Augustin, der heiligste aller Bischöfe«, berichtete Possidius, »starb am fünften Tage des Monats September, noch auf seinem Sterbelager bemüht, die Angriffe der Vandalen abzuwehren, und arbeitend an seiner großen Streitschrift gegen den Ketzer Julian.«
Musa sah von dem Buche hoch und fragte verschmitzt: »Willst du heiliger sein, mein hochwürdiger Freund, als der heilige Augustin? Lausche in die eigene Brust und prüfe, ob deine Zweifel anderes sind als fromme Hoffart.«
Am Abend dieses Tages legte sich Rodrigue eine dicke Schicht weißen, kostbaren Papiers zurecht, und langsam, genießerisch, fing er an zu schreiben: »Es beginnt die Geschichte Hispaniens – Incipit chronicon rerum Hispanarum.«
Musa aber meinte lächelnd: »Kein Laster sitzt tiefer als das der Schriftstellerei.« Der Friede, den Don Ephraim nach Hause brachte, war besser, als man erwartet hatte. Doch nicht hatte er erreichen können, und vielleicht hatte er’s nicht wollen, daß die Dauer des Waffenstillstands auf weniger als zwölf Jahre festgesetzt wurde.
Don Alfonso, nachdem ihm Ephraim ausführlich Bericht erstattet hatte, sagte: »Ich weiß, ich sollte dir dankbar sein. Ich bin es auch. Ich will meine Granden berufen, daß sie Zeugen seien, wenn du mir den Handschuh deines Auftrags zurückgibst.« Don Ephraim wehrte fast ängstlich ab: »Ich glaube nicht, daß mir solcher Glanz anstünde. Auch würde es der Aljama von Toledo viele Neider schaffen und wenig Freunde.«
Alfonso fragte augenblinzelnd, ob nach Ephraims Meinung denn nun wirklich die ganzen zwölf Jahre zum Wiederaufbau der Wirtschaft nötig sein würden.
Ephraim verspürte Unmut. Er hatte diesen Mann beizeiten und dringlich gemahnt, daß er innerlich bereit sein müsse auf den langen Frieden. Er hatte, Ephraim, die Übernahme des bösen Auftrags abhängig gemacht von dieser Bereitschaft, und nun, kaum daß Don Alfonso den Vertrag geschlossen hatte, sann er darauf, ihn zu brechen. Er antwortete trocken: »Der Zustand deines Reiches, Herr König, ist derart, daß du vermutlich länger wirst stillhalten müssen als die zwölf Jahre. Ich werde deinen neuen Feldzug nicht mehr erleben, und auch du wirst nicht mehr jung sein, wenn du ihn beginnst.«
Da Don Alfonso verdrossen schwieg, mahnte er: »Finde dich darein, Herr König. Don Jehuda hat für dich gute Arbeit getan. Er hat Verbindungen angeknüpft, die selbst nach diesem Zusammenbruch noch halten, er hat der ganzen Welt die vielen Möglichkeiten deines Kastiliens sichtbar gemacht, er hat dir Kredit geschaffen. Aber wenn du daraus Nutzen ziehen willst, dann mußt du an seinem Grundplan festhalten, und er hat für den Frieden gebaut. Denke in den nächsten Jahren nicht an deine Ritter und Barone, die das Land nur arm machen, denk an deine Bürger und Bauern, denk an deine Städte. Ihnen gib Privilegien, gib ihnen Fueros, stärke sie gegen deine Granden.«
Don Alfonso hörte zu, ablehnend, doch mit Teilnahme. Seine Welt war nun einmal die der Ritter. Die Wahrheit eines Königs war eine andere als die eines alten Juden und Bänkers. Seine, Alfonsos, Philosophie waren die Lieder Bertrans. Dabei hat dieser Ephraim vermutlich recht, und wenn er, Alfonso, in zwölf Jahren seinen Krieg erfolgreich führen will, muß er jetzt die Untern verhätscheln. Er muß dem Bürger und Bauern, dem Vilain einen Platz geben in seinem Rat und den Ritter in Strafe nehmen, wenn er seinen Bauern verprügelt oder dem Bürger mit guter Waffe den Pfeffersack wegnimmt. Es wird eine öde, langweilige Welt sein, es wird ein trauriges Kastilien sein, das er regiert.