Выбрать главу

Die Edelknaben, die dem König Speise, Wein, Mundtuch anboten, standen und warteten hilflos. Er sah sie nicht. Er war sich plötzlich sehr bewußt, wie einsam er war inmitten seiner fünftausend mal tausend Kastilier und ihrer Verehrung. Er starrte vor sich hin, sehr allein, in eine leere Welt.

Don Rodrigue merkte bekümmert, wie Alfonso hinter der gleichmütig freudlichen königlichen Maske starr und stolz vor sich hin sinnierte. Er war voll heißen Mitleids, doch erfüllt auch von der Neugier und Besessenheit des Chronisten, und er studierte den König mit sachlicher Beflissenheit. Don Alfonso war in der Tat memoria tenax, intellectu capax, vultu vivax. Er bewahrte, Alfonso, in seinem Gedächtnis gut die Geschehnisse, er begriff sie mit seinem scharfen Verstand, er hielt sie fest und gab sie wieder durch seine Miene. Ja, eingezeichnet in Don Alfonsos Gesicht waren seine Erfahrungen, seine wilden Süchte, seine schweren, stürmischen Siege, seine bittern Niederlagen, seine Überwindungen und Erkenntnisse. Tief zerschnitten Furchen die Stirn, zerkerbten Falten die Wangen. Sein Gesicht war zur Chronik seines Lebens geworden. Heute schon schaute durch das Antlitz des Vierzigjährigen das Gesicht des Greises, der er einmal sein wird. Im Norden des Reiches, nahe der Grenze von Navarra, auf dem Gebiet der Barone de Haro, lebte ein Eremit, der sich härtesten geistlichen Übungen unterwarf. Er lebte in einer Höhle hoch oben in den schroffen Abhängen der Sierra de Neïla. Wie er dort sein Leben fristete, war ein Wunder. Denn er war blind. Offenbar stand er in der besondern Obhut der Vorsehung. Sie bewahrte seine Füße vor dem Abgrund und schützte ihn vor den wilden Tieren; es hieß, die Wölfe kauerten vor ihm nieder und leckten ihm die Hand.

Büßende stiegen zu ihm hinauf und brachten ihm Gaben für seine kärglichen Bedürfnisse. Sie baten ihn, er möge ihnen die Hände auflegen; es ging Gnade aus von seinen Händen. Auch konnte er durch Berührung des Gesichtes ertasten, ob ein Sünder und wie weit Gottes Verzeihung erlangt habe.

Und der Ruhm des Einsiedlers und seiner frommen Fähigkeiten verbreitete sich übers Land.

Es war aber der Eremit jener Diego, den damals vor seiner ersten, siegreichen Schlacht bei Alarcos Alfonso hatte blenden lassen, weil er auf Wachtposten geschlafen hatte.

Nun waren die Barone de Haro, deren Dienstmann Diego war, schwierige Vasallen, dem König nicht gewogen. Sie erklärten, die Stadt Toledo sei durch die wüsten Ereignisse der letzten Jahre voll von Sünden, und forderten Diego auf, hinzugehen; der Besuch des Heiligen werde die Gewissen wecken. Die de Haros hofften aber, durch die Anwesenheit des Diego in der Hauptstadt dem König Ungelegenheiten zu bereiten.

Die Leute von Toledo strömten denn auch herbei, den gnadenreichen Mann zu sehen und zu verehren, und immer lauter wurde ihr Wunsch, es möge auch der König aus der Gegenwart des Wundertätigen Nutzen ziehen. Sie hatten, wenn Don Alfonso strahlend an der Seite der Fermosa durch die Straßen ritt, teilgehabt an seiner herzwärmenden, nicht erlaubten Lust, sie hatten sie selber mitgenossen, sie hatten ihm zugejubelt, und der Tag, an dem sie ihm begegneten, war ihnen ein Festtag gewesen. Wenn sie jetzt Alfonso sahen, spürten sie ehrfürchtiges Mitleid, Scheu, ein feines Grauen vor dem Gezüchtigten, Gezeichneten. Sie wünschten ihm volle Entsühnung und glaubten, der Heilige könne ihm dazu verhelfen.

Rodrigue sah in dem Gewese, das um Diego gemacht wurde, nichts als Aberglauben und Unfug, er witterte auch die böse Absicht der de Haros und riet dem König, sich nicht um Diego zu kümmern.

Diesem selber war der Mann lästig. Eine nachträgliche Scham brannte ihn, wenn er daran dachte, wie selbstgefällig er Raquel erzählt hatte von jener Blendung und von seinem Spruch für den Pflichtvergessenen. Er erinnerte sich, wie sich damals das lebendige Gesicht Raquels zugesperrt hatte, erst jetzt wußte er, warum.

Aber er hatte wahrgenommen, mit welcher Scheu die Leute auf ihn blickten, er begriff sie, er begriff ihren Wunsch, daß er mit dem Heiligen zusammenkomme. Auch wandelte ihn wachsende Neugier an, was denn nun aus diesem Diego geworden sei. Und hatte wirklich er, Alfonso, ohne es zu wissen und zu wollen, den Mann zu einem Heiligen gemacht?

Er erinnerte sich, da der Blinde vor ihm stand, genau des Diego von damals. Der war ein breiter Bursch gewesen, trotzig, selbstbewußt, ein wenig dem Castro ähnelnd, und war dieser hier wirklich der Diego, den er hatte blenden lassen? Alfonso wurde befangen, er bedauerte, daß er den Mann gerufen hatte, er wußte nichts zu sagen, und auch der andere schwieg.

Schließlich, halb gegen seinen Willen, scherzte er plump: »Wenigstens war der Spruch gut, den ich dir damals auf so strenge Art beigebracht habe.« Der andere antwortete: »Wer ich?« Alfonsos unmutige Verwunderung stieg. Hatten sie es dem Menschen nicht gesagt, zu wem er geführt wurde? Und hatte er’s nicht wissen wollen? »Ich, der König«, sagte er. Der Blinde, unerstaunt und unerregt, sagte: »Ich habe deine Stimme nicht erkannt. Es geht von dir nichts aus, was ich erkenne.« Alfonso fragte: »Hab ich dir unrecht getan, Diego, damals?« Der Blinde antwortete ruhig: »Es war Gott, der dich tun hieß, was du tatest. Aber auch der Schlaf, der damals über mich kam, war von Gott gesandt. Alarcos war eine Stätte harter Prüfung, für dich nicht minder als für mich. Es war jener Sieg von Alarcos, der dich verleitet hat, die zweite, übermütige Schlacht zu schlagen. Mir hat das Leid Segen gebracht, am Ende. Ich habe den Frieden gefunden.« Und, scheinbar ohne Zusammenhang, fuhr er fort: »Ich höre, Alarcos steht nicht mehr.«

Erst glaubte Alfonso, der Mann wolle sich im Schutze seiner Heiligkeit über ihn lustig machen. Aber die Worte kamen seltsam gleichmäßig von den Lippen des Blinden, sie kamen wie von einem Dritten, der sie beide aus hoher Ferne betrachtete, sie waren nicht bestimmt, ihn zu kränken.

»Ich habe gebetet«, sagte Diego, »daß das Unglück auch dir zum Heil ausschlage, Herr König.« Und: »Laß mich dich sehen«, verlangte er, die Hände ausstreckend. Alfonso begriff, was er wollte, er trat nah an ihn heran, und der Blinde betastete sein Gesicht. Der König spürte mit Unbehagen die knochigen Hände an seiner Stirn und seinen Wangen drücken und fingern. Alles an dem Mann war ihm widerwärtig: wie er aussah, wie er sprach, wie er roch. Es war in Wahrheit eine Prüfung, der er sich unterzog. Und war der Mann nicht doch ein Joglar, ein Jahrmarktsgaukler?

Diego sagte: »Sei getrost. Der Herr hat dir die Kraft gegeben, in Demut zu warten. Quien no cae, se no levanta – Wer nicht fällt, steht nicht auf. Vielleicht wirst du lange warten müssen, aber du hast die Kraft.«

Alfonso begleitete ihn zur Tür und überließ ihn denen, die ihn führten. Es kam der Tag, an dem man die Leichen des Jehuda Ibn Esra und seiner Tochter ausgrub, um sie in den Friedhof der Judería zu überführen. Es war ein Tag im frühen Herbst, warm, gewitterig; der Stadtfelsen von Toledo lag dunkel, in schwerem, schwärzlichgrünem Grau.

Sie hüllten Jehuda und Raquel in weißes Totenleinen. Sie legten sie in Särge, die einfach waren, wie der Brauch es verlangte; es war aber fette, schwarze, krümelnde Erde hineingestreut, Erde aus Zion. Auf Zions Erde also lag jetzt das Haupt des Jehuda, der gedichtet und getrachtet hatte zur größeren Ehre seines Volkes, und das Haupt der Raquel, die geträumt hatte vom Messias.

Alle jüdischen Gemeinden Hispaniens hatten Abordnungen gesandt, auch aus der Provence und aus Francien waren viele gekommen, und einige sogar aus Deutschland.

Die acht angesehensten Männer der Aljama von Toledo hoben die Särge auf ihre Schultern und trugen sie über die Kieswege der Galiana zwischen den Bäumen und Beeten hindurch zum Haupttor. Dort, wo die Inschrift Alafia grüßte, standen andere bereit, die Särge aufzunehmen. Sie trugen sie eine kurze Strecke, dann warteten neue Träger; denn Zahllose hatten sich um die Ehre beworben, die Toten zu Grabe zu tragen.