So, von Schulter zu Schulter, zogen die Särge die heiße Straße entlang zur Alcantara, zu der Brücke, die über den Tajo führte.
Eine kurze Strecke trug auch der junge Don Benjamín einen der beiden Särge, den zweiten, den Sarg Doña Raquels. Es war eine leichte Last, aber der junge Mensch hatte Mühe, die Beine zu heben; dicht und dumpf, leibhaft geradezu engte der Kummer ihn ein.
Er suchte die Enge zu durchstoßen mit Gedanken.
Dachte daran, wie nun die sechstausend fränkischen Flüchtlinge, die Jehuda gegen so viel wüsten Widerstand ins Land gerufen hatte, aus lästigen Eindringlingen zu hocherwünschten Mitbürgern geworden waren. Es war alles anders gekommen, besser, als er, Benjamín, erwartet hatte. Halb ungläubig hatte er’s mitangesehen, wie sein Onkel Ephraim nach Sevilla gesandt worden war, wie er den Frieden bewirkt hatte und wie er nun Maßnahmen traf, ihn zu wahren. Das Werk Jehudas bestand, es ging weiter. Und der König duldete es nicht nur, der König förderte es. Aber wieviel Tod und Elend war nötig gewesen, ehe dieser Ritter zur Vernunft kam. Und wird die Vernunft vorhalten?
Er durfte sich von seinem Widerwillen gegen den König nicht zu ungerechtem Urteil verleiten lassen. Der König hatte sich gewandelt. Raquel hatte es erreicht. Es war zugegangen wie in jenem Märchen, das sie so sehr liebte. Der Zauberer hatte dem Lehmkloß Leben eingehaucht, aber der Zauberer war darüber gestorben.
Langsam schritt Don Benjamín dahin, die leichte Last Raquel auf der Schulter, eingesponnen in seine Betrachtung, ungleichmäßigen Schrittes, die andern Träger behindernd.
Die Sechstausend werden nun sinnvoll leben können. Das war wenig, maß man es an dem sinnlosen Tod, den tausend mal tausend gestorben waren in den Kriegen dieser Jahrzehnte. Alles Erreichte war wenig, das bißchen Friede des Ephraim, das bißchen Vernunft des Königs. Es war nur ein winziges neues Licht in der großen Nacht. Aber da war es, das neue kleine Licht, es leuchtete, und wenn ihn Angst ankommen sollte, wird das kleine Licht sie ihm fortleuchten.
Es war an dem, daß er und die mit ihm trugen, den Sarg abzugeben hatten an neue Wartende. Doch nun er der Last ledig war und nicht mehr Schritt halten mußte mit den andern, schleppten sich seine Füße noch schwerer. Aber er raffte sich zusammen, hielt sich aufrecht, dachte. Dachte bitter, zäh und beharrlich: Es ist uns aufgetragen, am Werke zu arbeiten; es zu vollenden ist uns nicht aufgetragen.
Der Leichenzug hatte die Stadtgrenze erreicht, die Brücke über den Tajo. Weit öffneten sich die mächtigen Tore, die Toten einzulassen.
Don Alfonso hatte angeordnet, daß seinem Escrivano, dem Toledo so schlecht gedankt hatte, höchste Ehre erwiesen werde. Die Leute von Toledo gehorchten gerne. Alle Häuser waren mit schwarzen Tüchern ausgelegt. Dicht säumte das Volk, eine einförmig dunkle Masse, die sonst so bunten Straßen; der Lärm war gedämpft zu einem schweren Summen. Überall am Wege standen Soldaten des Königs in Haltung, und wo immer die Särge vorbeikamen, senkten sich die Fahnen mit dem Wappen Kastiliens. Die Leute entblößten die Köpfe, viele knieten, Frauen und Mädchen weinten laut um das Schicksal der Fermosa.
Die Toten zogen die steilen Straßen hinauf zur innern Stadt. Man nahm nicht die kürzeste Strecke, man führte die Särge auf einem Umweg über den Marktplatz, den Zocodovér, damit möglichst viele den Toten Ehre erweisen könnten.
An einem Fenster hoch oben in der Burg, von wo er den Weg des Trauerzuges weit verfolgen konnte, stand Alfonso, allein.
Er dachte:
Ich bin nicht einmal traurig. Ich bin ruhig geworden. Ich bin frei von heftigen Süchten. Ich bin ein besserer König geworden. Ich sollte es zufrieden sein. Ich bin es nicht.
Ich werde wohl meinen großen Feldzug noch erleben, und ich werde ihn führen können an der Spitze eines geeinigten Hispaniens. Aber auch in der Minute, da ich den Sieg in der Hand habe, werde ich nichts Heißeres fühlen als: Jetzt ist es soweit, ich habe meine Pflicht getan, und wenn es hoch kommt, wird es Erleichterung sein, Glück wird es nicht sein. Was mir an Glück zugemessen war, liegt hinter mit. Es war da, ich hab es in meinen Armen gehalten, es hat sich mir angeschmiegt, weich und betäubend süß. Aber ich war leichtsinnig und bin davongegangen. Und jetzt tragen sie, was mir an Glück bestimmt war, dort unten vorbei.
Zwölf Jahre soll ich warten auf meinen Feldzug. Ich habe nie warten können; das Leben ist mir gerannt wie ein Pferd. Jetzt kriecht es mir wie eine Schnecke. Das Jahr dehnt sich, der Tag dehnt sich. Und ich halte es aus, ich werde nicht einmal zornig. Und daß ich so warten kann, das ist das Schlimmste.
Ich werde auch den Feldzug mit Bedacht führen. Nichts wird dasein von dem wilden, seligen Mut von früher. Sie werden schreien: A lor, a lor!, und ich werde nicht mitschreien.
Er mühte sich, an denjenigen zu denken, für den er den Feldzug führen wird, an den kleinen Fernán; aber er sah kein klares Bild, und keine Wärme ging aus von dem Bild des Enkels. Alles, was jetzt um Alfonso war, blieb sonderbar vag, nebelhaft, unwirklich.
Er dachte:
Ich bin vierzig, aber mein Leben liegt hinter mir. Nichts ist mir wirklich als meine Vergangenheit. Mein Heute liegt in Dunst und Staub wie ein Schlachtfeld in währendem Kampf. Und auch wenn ich einmal siege, wird darüber nichts sein als Dunst und Dumpfheit. Ja, wenn ich für meinen Sohn siegen könnte, für meinen Sancho, für meinen lieben Bastard! Aber wer weiß, wo dann mein Sancho sein wird. Wahrscheinlich unter denjenigen, denen der Friede mehr gilt als sogar der Sieg.
Der Leichenzug mittlerweile war an seinem Ziel angelangt.
Drei Friedhöfe hatten die Juden von Toledo, zwei außerhalb der Mauern, einen in der Judería selber. In diesem, der klein war und sehr alt, hatten nur die Mitglieder der vornehmsten Geschlechter Grabstätten, unter ihnen die Ibn Esras. Es lagen unter diesen toten Ibn Esras solche, die ihr Geschlecht zurückführten auf einen Nachfahr König Davids, der zusammen mit dem Adoniram, dem Steuereinnehmer König Salomos, nach der Halbinsel gekommen war, und so auch war es vermerkt auf ihren Grabsteinen. Es lagen ferner unter diesen toten Ibn Esras solche, die zur Zeit der Römer Kaufleute gewesen waren, Bänker, Steuereinnehmer, und solche, die unter den Gotenkönigen in Toledo gelebt hatten, gejagt und verfolgt, und solche, die unter den Moslems Wesire gewesen waren und große Ärzte und Poeten. Es lag hier auch jener Ibn Esra, der einstmals das Castillo gebaut hatte, das ihren Namen trug, sowie jener, der dem Kaiser Alfonso Calatrava gehalten hatte, der Oheim Jehudas.
Auf diesen Friedhof also brachte man die Leichen.
Eng aneinandergedrückt standen die Trauernden; so dicht standen sie, erzählt der Chronist, daß man über ihre Schultern hätte hinweglaufen können.
Im Bezirk der toten Ibn Esras hatte man zwei neue Gräber ausgeschachtet. Da hinein legten sie Jehuda Ibn Esra und seine Tochter Raquel und versammelten sie zu ihren Ahnen.
Dann wuschen sie sich die Hände und murmelten den Segensspruch.
Und Don Joseph Ibn Esra als der nächste Verwandte sprach das Gebet der Trauernden, welches beginnt: Gerühmt und geheiligt werde der erhabene Name, und welches endet: Der Frieden stiftet in seinen Höhen, Er gebe Frieden uns und allem Israel, und darauf sprechet amen.
Und dreißig Tage lang in allen jüdischen Gemeinden der Halbinsel und in denen der Provence und Franciens sprachen sie dieses Gebet, zum Andenken Don Jehuda Ibn Esras Unseres Herrn und Lehrers, und der Doña Raquel.
Wo aber auf Märkten und in Schenken Kastiliens viele Leute zusammenkamen, sangen die Joglares, die Bänkelsänger, Balladen von dem König Don Alfonso und seiner heißen, verhängnisvollen Liebe zu der Jüdin Fermosa. Tief ins Volk drangen die Lieder, und am Werktag und am Feiertag, bei der Arbeit und beim Essen und in den Schlaf hinein sang und summte es in Kastilien: