Don Alfonso selber betrat niemals mehr das Gebiet der Huerta del Rey.
Langsam verwilderten die Gärten und verfiel die Galiana. Auch die weiße Mauer zerbröckelte, die den ausgedehnten Besitz umgab. Am längsten hielt das große Haupttor, durch welches der Castro und die Seinen gezogen waren, um Raquel und ihren Vater zu erschlagen.
Ich selber bin noch vor diesem Tor gestanden und habe die verwitternde arabische Inschrift gesehen, mit welcher die Galiana den Gast begrüßte: Alafia, Heil, Segen.
Nachwort des Autors 1955
Jahrzehnte hindurch hat mich die Geschichte jener Hadassa beschäftigt, die, von dem persischen Großkönig Ahasver zu seiner Königin erhöht, unter dem Namen Esther ihr Volk, die Juden, vom sichern Untergang rettet.
Der kleine Roman, der das Schicksal dieser Hadassa zum Gegenstand hat, »Das Buch Esther«, ist eines der wirksamsten und populärsten Bücher der Bibel. Der Autor versteht sich auf die Kunst der großen hebräischen und arabischen Erzähler, er schafft steigende äußere und innere Spannung und weiß seiner Fabel immer neue Überraschungen abzugewinnen. Überdies schrieb er zu einer Zeit, da sein Volk aus höchster Bedrängnis gerettet worden war, er litt und jubelte mit seinem Volk, und sein patriotischer Schwung teilt sich noch heute dem Leser mit.
Mich jedenfalls hat »Das Buch Esther« tief angerührt, es hat viele angerührt, und in den mehr als zweitausend Jahren seit seiner Entstehung haben viele versucht, den Roman aus den Geschehnissen ihrer eigenen Zeit heraus zu erzählen. Mehrmals, wenn ich die Bedrängnis der beiden Völker, deren Verband ich angehöre, besonders schmerzhaft spürte, hat es auch mich getrieben, aus dem Sehwinkel meiner Welt heraus die Geschichte der Königin Esther neu zu erzählen.
Was den kleinen Roman so besonders fesselnd macht, ist ein listiger Kunstgriff des alten jüdischen Dichters, ein Kunstgriff, den vor ihm keiner gefunden hatte. Er schafft seinen Erfindungen Glaubwürdigkeit und den Anschein äußerster Sachlichkeit, indem er sich in einen Mann verkleidet, der den Auftrag hat, die Ereignisse des persischen Hofes historisch trocken aufzuzeichnen. Er gibt seinem Roman die Maske einer Hofchronik, er verbirgt die jüdisch-nationalistische Tendenz der Erzählung hinter ihrem objektiven Ton. Er vermeidet es, auf die Gottesbegnadung, die Auserwähltheit seines Volkes hinzuweisen; unter den Büchern der Bibel ist dieses das einzige, in welchem Gott nicht erwähnt wird. Auch verzichtet er darauf, das Wesen und die Taten seiner Menschen zu werten. Er preist nicht seine Königin Esther und ihren Vormund Mardochai, er beschimpft nicht den Judenfeind Haman. Er verläßt sich auf seine Fabel, er rechnet damit, daß die Vorgänge, die er ersonnen hat, genügen, den Leser zu empören gegen den Judenfeind und zu begeistern für den duldenden und triumphierenden Mardochai und seine Esther. Das gelingt dem Dichter denn auch, und wiewohl er sorglich den eigenen Jubel versteckt, freut sich der Leser von Herzen, wenn am Schluß Haman an dem Galgen hängt, den er für Mardochai errichtet hat.
Denkt freilich der Leser nach vollendeter Lektüre über die Geschehnisse nach, dann kommen ihm Bedenken. Wie konnte die junge Frau, welche der Herrscher der Welt auf seinen Thron setzt, es bewerkstelligen, Namen und Herkunft so lange zu verschweigen? Was ist das für ein Großwesir, der mit dem einzelnen Feind gleich dessen ganzes Volk vernichten will? Was ist das für ein König, der heute ohne langes Fragen eine ganze Nation zum Untergang verurteilt und morgen wiederum ohne viel Federlesen die zahllosen Feinde dieses Volkes hinschlachten läßt? Stellt man aber erst solche Fragen, dann erweist sich die Sachlichkeit des Autors als Kostüm und der ganze Roman als Hirngespinst.
Hier einzugreifen und das Märchen des alten Dichters sinnvoll in beglaubigte Geschichte einzubetten schien mir eine reizvolle Aufgabe. Ich wollte die Handlung in einer Umwelt ansiedeln, welche Menschen und Ereignisse glaubwürdig machen sollte, und überdies Ausblicke ins Vergangene und ins Zukünftige öffnen dergestalt, daß die Begebenheiten um Esther auch die Ereignisse von heute neu belichteten.
Da indes erwies sich, daß die alte Grundfabel einen schlimmen Fehler hat. Ihre Heldin ist nicht da. Esther ist eine Puppe in der Hand ihres Vormunds, sie wird von außen bewegt, sie ist ganz und gar passiv, ein Rad im Getriebe der Handlung, nichts weiter. Dieses Vakuum gerade im Zentrum der Geschichte hat bewirkt, daß große Dichter, welche die Handlung zu getreu übernahmen, gescheitert sind. Racine flüchtete seine Dichtung in den sicheren Hafen der Frömmigkeit, Grillparzer ließ das halbvollendete Werk liegen. Ich war vermessen genug, anzunehmen, daß ich meiner Esther jenes Eigenleben geben könnte, das ich an der Königin Esther des Märchens vermißte. Aber ich hätte dann sehr weit abgehen müssen von der biblischen Grundfabel, die ihren mehr als zweitausendjährigen Nimbus hat, und so begnügte ich mich, den Grundriß eines zukünftigen Buches liebevoll aufzuzeichnen.
Es konnte nicht ausbleiben, daß in den Jahrzehnten, da ich mich mit der Esther-Geschichte befaßte, die Gestalten anderer jüdischer Frauen herandrängten, die folgenreich in die Geschichte ihres Volkes eingegriffen hatten, und eine von ihnen ist eben die, von der Sie in diesem Buch gelesen haben, Raquel, La Fermosa, die Freundin des Königs Alfonso.
Ich erfuhr zuerst von ihrer Geschichte durch das Drama Grillparzers. Ich liebte und liebe sehr dieses Stück, den zarten Schwung seiner Verse und die Seelenkenntnis seines Dichters, der bewußt darauf verzichtet, seiner Handlung irgendwelche geschichtlichen Beziehungen zu geben, dafür aber seine Menschen um so schärfer herausarbeitet. Seltsamerweise tadelte sein Freund und Herausgeber Heinrich Laube das Werk mit Schärfe. (Es ist wohl der Stoff als solcher mit seiner sensationellen Mischung von Erotischem und Historie, der gewisse Betrachter abstößt; so hat etwa Martin Luther »Das Buch Esther« mit Unmut und Heftigkeit abgelehnt.) Wie immer, Heinrich Laube nimmt an, Grillparzers »Jüdin« sei mißlungen, weil sich der Dichter zu treu an sein Vorbild gehalten habe, an das Drama Lope de Vegas »La Judía de Toledo«, ein nach Laubes Meinung rein äußerliches Theaterstück.
Ich las Lopes Drama. Gewiß ist es theatralisch, es ist sichtlich in wenigen Tagen hingeschmissen und höchst unbedenklich. Da dem Dichter der Stoff, den er in seiner Vorlage, einer alten Chronik, fand, für die drei Akte eines Stückes nicht zu genügen schien, füllte er damit nur seine beiden letzten Akte und verwandte für seinen ersten Akt aus der gleichen Chronik ein paar Kapitel, die dort der Geschichte der Jüdin unmittelbar vorausgehen, doch nichts mit ihr zu tun haben. Da aber Lope ein passionierter und überaus geschickter Theatermann ist, überträgt sich die Freude, die er an den Effekten seines Theaters hat, auf den Leser und Zuschauer, seine Sorglosigkeit tut der Wirksamkeit seines Stückes kaum Eintrag. Seine »Judía de Toledo« ist ein überaus kräftiges, farbiges, wild patriotisches Theaterstück geworden, und ich verstehe sehr gut, was Grillparzer daran anzog.
Ja, der Stoff fesselte mich, wie er Lope und Grillparzer gefesselt hat.
Ich las Lopes Quelle. Es ist das jene Chronik, aus der ich einige Zeilen jedem Teil meines Romans als Motto vorgesetzt habe. Geschrieben ist diese Chronik von einem anderen Alfonso von Kastilien, dem Zehnten dieses Namens, einem Urenkel unseres Alfonso, der sieben Jahre nach dessen Tod geboren wurde. Er erzählt von der Liebschaft seines Urgroßvaters und der Jüdin mit sichtlicher Anteilnahme. Wie überhaupt diese Liebesgeschichte von Beginn an und durch die Jahrhunderte hindurch die Phantasie der Spanier beschäftigt hat. Es wurden um sie bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts hinein immer neue Balladen, Romanzen, Vers-Epen, Romane, Novellen und Stücke geschrieben. Selbst in der arabischen Literatur spielt die Geschichte eine Rolle, die Romantiker vieler Zeiten und vieler Länder haben sie erzählt, ein jeder auf seine Weise.