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Soweit ich es überblicken kann, hat indes von diesen vielen Fassungen keine sich um die Geschichte des Landes gekümmert, in dem die Ereignisse spielen. Dabei ist aber das Schicksal der Liebenden eng verknüpft mit dem ihres Landes, und je eingehender sich der Betrachter mit den Zuständen jenes Spaniens befaßt, einen um so tieferen Sinn gewinnt ihm die Geschichte von Esther-Raquel und dem König.

Die alten spanischen Chroniken und Balladen, die als erste von Alfonso und der Jüdin berichten, glauben naiv und bedingungslos an die Heiligkeit des Krieges. Sie halfen mir, jene ritterliche Zivilisation zu verstehen, die mit all ihrer überfeinerten Courtoisie noch tief im Barbarischen steckt, die innere Landschaft jener kastilischen Barone, ihre glaubenswütige, todessüchtige Tapferkeit, ihren grenzenlosen Stolz, der ohne Skrupel die wunderbaren Städte und Länder zerstört, welche die anderen geschaffen haben. Nur wer die hinreißende Anziehungskraft dieses Abenteurertums spürt, kann, scheint mir, die Geschichte von Raquel und dem König ganz verstehen.

Ich wollte dieses sinnlose Heldentum nicht etwa erklären, ich wollte seinen Glanz und Zauber lebendig machen, ohne doch sein Verderbliches zu verstecken. Sichtbar machen wollte ich, wie die Magie dieses Kriegertums sogar jene anzieht, die seine Verderblichkeit durchschauen. Raquel spürt, wie unheilvoll sich Alfonsos Tollkühnheit auswirken muß – und liebt ihn. Was sie, die Wissende, an dem unheilvollen Manne lockt, sollte zum Sinnbild werden aller Verführung, die von dem Kriegerischen, dem Abenteuerlichen ausstrahlt und zuweilen auch den Erkennenden blendet.

Dem Ritter entgegenstellen wollte ich den Mann des Friedens. Der freilich wird nicht gefeiert in den Chroniken und Balladen der Zeit, aber vorhanden ist er. Schattenhaft am Rande der Chroniken lebt er, deutlicher in Dokumenten, Privilegien und Gesetzen, am klarsten in Büchern der Gelehrten und Philosophen. Da sind die Bürger und Bauern, die Bewohner der aufkommenden Städte, die danach trachten, dem wilden Wesen der Ritter und Barone Ordnung und Gesetz entgegenzustellen. Da sind die Juden, die schon deshalb ihr Bestes tun, den Frieden zu wahren, weil sie die ersten sein werden, die zwischen den Kriegführenden umkommen. Und da sind vor allem die Denkenden, Geistliche und Laien, jene Rodrigue, Musa, Benjamín, die mit Wort und Tat dem Kriege wehren. Männer, die der gerüsteten Tapferkeit der Ritter nichts entgegenzusetzen haben als den stillen Mut ihres Geistes. Aber ist das nicht viel?

Zwei Pfeiler sind es, pflegt man zu sagen, auf denen unsere Zivilisation steht: das humanistische Bildungsideal der Griechen und Römer und der jüdisch-christliche Moralkodex der Bibel. Mir scheint, es lebt in unserer Zivilisation ein drittes Erbe fort: die Ehrfurcht vor dem Heldentum, dem Rittertum. Das liebevoll ehrfürchtige Bild des christlichen Ritters, wie das Mittelalter es malte, ist noch keineswegs verblaßt. Noch immer gilt als der höchste Ruhm die Glorie des Helden, des Kriegers. Der große Dichter Cervantes hat mit zärtlicher Sorgfalt gestaltet, was an dem Ritter lächerlich ist. Die Welt lachte: überzeugen ließ sie sich nicht. Ein Stück Don Quichotte war wohl von Anfang an in jedem Ritter; doch die Welt wollte und will das nicht sehen, sie will noch immer nicht den Narren sehen, der in dem Ritter steckt, sie will nur seinen Glanz sehen; sie schaut noch immer zu dem Ritter auf und überhäuft ihn mit Ehren.

Weil also das hinreißende Rittertum des Mittelalters noch immer unheilvoll lebendig ist, deshalb geht, glaube ich, die Geschichte von Alfonso und Raquel auch uns an. Die Theoretiker jenes Jahrhunderts erörterten, ob es erlaubt sei, einem Feind, der vielleicht angreifen könnte, durch Angriff zuvorzukommen; sie erörterten, ob es schimpflich sei, den Frieden mit hohen Opfern zu bezahlen. Ich wollte versuchen, Menschen wiederzubeleben, die sich mit solchen Gedanken herumschlugen. Ich sagte mir, wer die Geschichte dieser Menschen neu erzählt, schreibt nicht nur Historie, er gibt Problemen unserer Zeit Licht und Sinn.

L. F.