In all dem Neuen, das Raquel in Toledo sah, hörte und erlebte, versank ihr überraschend schnell die islamische Vergangenheit. Schon fiel es ihr schwer, sich die Züge ihrer Freundin Layla genau zurückzurufen oder die gelle, aufrüttelnde Stimme, mit welcher der Muezzin von der Azhar-Moschee zum Gebete rief. Aber sie trachtete, nicht zu vergessen, sie las weiter arabisch und übte sich in der zierlichen, schwierigen arabischen Kalligraphie. Auch hielt sie, obgleich sie sich als Jüdin fühlte, die moslemischen Bräuche weiter, nahm die vorgeschriebenen Waschungen vor und sprach die Gebete. Der Vater ließ es geschehen.
Die ständige Gesellschaft der Amme Sa’ad erleichterte es ihr, das Vergangene festzuhalten. Des Abends, wenn ihr die Amme beim Auskleiden half, schwatzten sie über das, was sie gesehen hatten, und verglichen es mit dem Leben in Sevilla. »Laß dich nicht zu weit mit den Ungläubigen ein, Rechja, mein Lämmchen«, mahnte da wohl die Amme. »Sie werden alle in der Hölle brennen, weil sie schamlos sind, und sie wissen es, und darum sind sie um so hochmütiger auf dieser Erde. Ihre Sultanin ist eine besonders Hochmütige. Sie lebt, diese Ungläubige, die meiste Zeit fern vom Harem ihres Gemahls, des Sultans Alfonso, in einer nördlichen Stadt, von der sie erzählen, sie ist so kalt und stolz wie sie selber.«
Hochmütig waren sie wohl, die Ungläubigen, damit hatte die Amme recht. Doña Raquel hatte den König noch nie zu Gesicht bekommen. Und sogar der Vater, der doch einer seiner Räte war, schien ihn nur selten zu sehen. Von seinem Intendanten und Sekretär Ibn Omar, der einen guten Informationsdienst eingerichtet hatte, erfuhr Don Jehuda, wie heftig die großen Herren des Reiches ihn anfeindeten. Sie hatten, seitdem der kluge Ibn Schoschan tot war, ihre Privilegien vermehrt, nach der Niederlage des Königs hatten sie sich weitere Sonderrechte angeeignet. Sie waren empört, daß nun ein neuer Hebräer kam, noch schlauer und habgieriger als der frühere, ihnen alles wieder wegzunehmen. Sie schimpften, zettelten, intrigierten. Jehuda hörte den Bericht unbewegten Gesichtes. Er wies seinen Ibn Omar an, er solle verbreiten, der neue Escrivano verteidige das unterdrückte Volk gegen die räuberischen Barone und suche den Wohlstand der Bürger und Bauern zu fördern.
Führer des Widerstandes gegen Don Jehuda war der Erzbischof von Toledo, der kriegerische Don Martín de Cardona, ein naher Freund des Königs. Seitdem die Christen das Land wieder erobert hatten, führte die Kirche einen erbitterten Kampf gegen die jüdischen Gemeinden. Die Juden entrichteten nicht, wie die übrige Bevölkerung, ihren Zehnten der Kirche, sie führten ihre Steuern unmittelbar an den König ab. Kein päpstliches Edikt, kein Beschluß des Kardinalkollegiums hatte daran etwas geändert. Erzbischof Don Martín war ergrimmt, daß die Bestallung des schlauen Ibn Esra die Juden noch verstockter machte in ihrem frevelhaften Bestreben, sich der Kirche zu entziehen. Er arbeitete mit allen Mitteln gegen den neuen Escrivano.
Um so seltsamer war es, daß sich, und zwar offenbar in freundlicher Absicht, schon bald nach Don Jehudas Ankunft der Sekretär des Erzbischofs, der Domherr Don Rodrigue, im Castillo Ibn Esra einstellte, der Beichtvater des Königs.
Der stille, höfliche Herr hatte hohes Interesse an Büchern. Er sprach, las und schrieb lateinisch und arabisch, er las auch hebräisch. Er verstand sich gut mit Jehuda, noch besser mit Jehudas weisem Freunde Musa Ibn Da’ud.
Musas Räume waren behaglich eingerichtet. Der alte Herr hatte zweimal in Not und Verbannung gehen müssen und hatte bewiesen, daß er Elend ohne Klagen ertragen konnte. Gerade darum liebte er Bequemlichkeit. Nicht ohne einen kleinen, gemütlichen Stolz zeigte er dem Domherrn die vielen Röhren der sorgfältigen Heizeinrichtung und den Filzbelag der Mauern, der durch ein ausgeklügeltes System berieselt werden konnte und angenehme Kühlung für heiße Tage verbürgte. Die zahlreichen Bücher Musas waren handlich untergebracht, sein großes, geliebtes Schreibpult stand wohlbelichtet. Und eine schöne Rundhalle, geeignet für ruhige Betrachtung, öffnete sich in den Garten.
Der wißbegierige Domherr konnte sich an Jehudas und Musas Bibliothek nicht satt sehen. Er bewunderte die Vielfalt der Bücher, die sich über alle Wissensgebiete verbreiteten, ihre zierliche Kalligraphie, ihre Initialen und bunten Randleisten, die schön gearbeiteten und geschmückten Hülsen der Buchrollen und die eleganten und gleichwohl festen Einbände der gebundenen Bücher. Vor allem aber bestaunte er den Stoff, auf den die meisten dieser Bücher geschrieben waren, es war jener Stoff, den die Christenheit kaum kannte: Papier.
Ach, sie, die Gelehrten der christlichen Reiche, mußten auf Pergament schreiben, auf Tierhaut, und nicht nur war die Mühe des Schreibens viel größer, es war auch das Material kostbar und spärlich. Oft mußten die Schreiber schon beschriebenes Pergament hernehmen, sie mußten, was die Früheren mit viel Mühe geschrieben hatten, mit viel Mühe wieder auslöschen und auskratzen, um ihre eigenen Gedanken auf dem alten Stoff niederzulegen, und wer mochte wissen, ob da nicht ein wohlmeinender Schreiber von heute edelste Weisheit eines Früheren austilgte, um seine eigenen, vielleicht sehr einfältigen Gedanken den Späteren aufzubewahren.
Don Jehuda erklärte dem Domherrn, wie dieses Papier hergestellt wurde. Mühlen bereiteten aus einem weißlichen Pflanzenstoff, Kattun genannt, einen Brei, es wurde geschöpft und getrocknet, das Ganze war keineswegs teuer. Das beste Papier wurde in Játiva hergestellt, es war sehr grobkörnig, Jatvi wurde es genannt. Don Rodrigue wog ein auf solches Jatvi geschriebenes Buch in zärtlichen Händen, kindlich staunend, wie wenig Raum und Gewicht so viel Geistiges beanspruchte. Jehuda erzählte, er habe Vorbereitungen getroffen, auch hier in Toledo Papierfabriken zu errichten, es gebe genügend Wasser, der Boden eigne sich für die notwendigen Pflanzen. Don Rodrigue war entzückt. Jehuda versprach, er werde ihm jetzt schon Papier beschaffen.
Später saßen Don Rodrigue und der alte Musa allein in der kleinen, offenen Rundhalle und pflogen langsames Gespräch. Don Rodrigue erzählte, man habe auch in den Ländern der Christen von Musas wissenschaftlicher Leistung gehört, vor allem von dem großen historischen Werk, an dem er schreibe, und auch von den Verfolgungen, die er habe leiden müssen. Musa dankte mit höflicher Neigung des Kopfes. Er saß, der lange Herr, bequem in seinen Kissen, etwas vornübergeneigt, die großen, milden Augen schauten still und wissend. Er sprach nicht viel, doch kam das meiste aus weiter Kenntnis, reicher Erfahrung, tiefer Überlegung. Es klang neu und anregend, freilich zuweilen etwas verfänglich.
Vieles schien verfänglich in diesem Castillo Ibn Esra. Da waren etwa unter den Inschriften, die von den Wandfriesen leuchteten, einige hebräische. Sie waren nicht leicht zu entziffern im Gestrüpp der vielen Schnörkel und Ornamente, die sie umgaben. Aber der Domherr, stolz auf sein Hebräisch, erkannte, daß sie der Heiligen Schrift entnommen waren, dem Buche Kohelet, dem Prediger Salomo. Ja, bestätigte Musa, es war so, und er nahm einen Stab, zeigte dem Domherrn, wie die Sätze inmitten der wirren Arabesken liefen, sich verloren, sich wieder fanden, zeigte und las und übertrug ins Lateinische. Es lauteten aber die Sätze: »Das Schicksal der Menschenkinder und das Schicksal des Viehes ist das gleiche. Wie dieses stirbt, so sterben jene, ihre Seele ist die gleiche, nicht besser ist der Mensch als das Vieh, und es ist alles eitel. Alles endet am gleichen Ort, alles ist aus Staub, und alles kehrt zurück zum Staub. Wer weiß, ob die Seele der Menschenkinder hinaufgeht und die Seele des Viehes hinunter unter die Erde?« Don Rodrigue verfolgte mit den Augen die hebräischen Zeichen an der Wand und sah und hörte, daß Musa getreu übersetzte. Aber klangen die Worte, wie er sie aus der Übersetzung des heiligen Hieronymus im Gedächtnis hatte, nicht anders? Nahm nicht im Munde dieses weisen und gütigen Musa selbst das Wort Gottes einen leisen Schwefelgeruch an?