Raquel hatte nie mehr mit Layla über ihr Geheimnis gesprochen. Aber als sie das letztemal zusammen waren, hatte Layla haltlos geweint und gesagt: »Ich habe immer geahnt, daß es so kommen wird.«
Es war jenes dreiste, törichte Mitleid Laylas gewesen, das damals Raquel antrieb, genauer zu erkunden, was denn diese Juden waren, zu denen sie und der Vater gehörten. Die Moslems nannten sie »das Volk des Buches«; also mußte sie zuerst einmal dieses Buch lesen.
Sie bat Musa Ibn Da’ud, Onkel Musa, der im Hause des Vaters lebte und der sehr gelehrt war und viele Sprachen kannte, sie im Hebräischen zu unterweisen. Sie lernte leicht und konnte bald in dem Großen Buch lesen.
Sie hatte sich von ihren frühesten Jahren an zu Onkel Musa hingezogen gefühlt, doch erst in den Stunden des Unterrichts lernte sie ihn recht kennen. Dieser nächste Freund ihres Vaters war ein langer, dünner Herr, älter als der Vater; manchmal schien er uralt, dann wieder auffallend jung. Aus seinem hagern Gesicht ragte eine fleischige, stark gekrümmte Nase, über ihr leuchteten große, schöne Augen, die einen durch und durch schauen konnten. Er hatte viel erlebt; der Vater sagte, er habe sein ungeheures Wissen und die Freiheit seines Geistes mit vielen Leiden bezahlen müssen. Doch sprach er nicht davon. Wohl aber erzählte er manchmal dem Kinde Raquel von fernen Ländern und seltsamen Menschen, und das war noch aufregender als all die Märchen und Geschichten, die Raquel gerne hörte und las; denn da vor ihr saß dieser ihr Freund und Onkel Musa und war mitten drin gewesen.
Musa war Moslem und hielt alle Bräuche. Aber er schien lax im Glauben und verbarg nicht milde Zweifel an allem, was nicht Wissen war. Einmal, als er mit ihr im Propheten Jesaja las, sagte er: »Das war ein großer Dichter, vielleicht ein größerer als der Prophet Mohammed und der Prophet der Christen.«
Das war verwirrend. Durfte sie, die sich zum Propheten bekannte, überhaupt in dem Großen Buch der Juden lesen? Wie alle Moslems betete sie täglich die Eingangs-Sure des Korans, und da hieß es im letzten, siebenten Verse, Allah möge seine Gläubigen fernhalten vom Wege derer, denen er zürne. Mit diesen Gnadelosen aber, hatte ihr Freund erklärt, der Chatib der Azhar-Moschee, waren die Juden gemeint; denn daß Allah ihnen zürnte, zeigte er ja durch das Unheil, das er über sie brachte. Ging sie also nicht, wenn sie in dem Großen Buch las, den falschen Weg? Sie faßte sich ein Herz und fragte Musa. Der schaute sie lang und freundlich an und meinte, ihnen, den Ibn Esras, zürne Allah offenbar nicht.
Das leuchtete Raquel ein. Mußte doch ein jeder sehen, daß Allah ihrem Vater gnädig war. Nicht nur hatte er ihm jegliche Weisheit gegeben und das mildeste Herz, er hatte ihn auch mit allen äußern Gütern gesegnet und mit hohem Ruhme.
Raquel liebte ihren Vater. In ihm sah sie verleiblicht alle die Helden der bunten, blühenden Märchen und Geschichten, die sie so gerne hörte, die würdigen Herrscher, die klugen Wesire, die weisen Ärzte, Hofherren und Zauberer, dazu alle die von Liebe brennenden Jünglinge, denen die Frauen zuflogen. Und überdies war um den Vater sein hohes, gefährliches Geheimnis: er war ein Ibn Esra.
Von allen ihren Erlebnissen hatte sich ihr am tiefsten ins Herz geprägt jenes dunkle, flüsternde Gespräch, in welchem der Vater dem Kinde eröffnet hatte, daß er zu den Ibn Esras gehörte. Dann aber war dieses Gespräch verschattet worden von einem noch bedeutsameren. Als nämlich der Vater von seiner großen Reise ins nördliche Sepharad, ins christliche Spanien, zurückgekehrt war, nahm er sie beiseite und sprach ihr, gedämpft wie damals, von den Gefahren, die hier in Sevilla die heimlichen Juden bedrohen werden, wenn der Heilige Krieg ausbricht; und dann, im Tone des Märchenerzählers, beinahe scherzend, fuhr er fort: »Und hier, ihr Gläubigen, beginnt die Geschichte von dem Dritten Bruder, der aus dem hellen, sichern Tag in das mattgoldene Dämmer der Höhle ging.« Raquel begriff sofort, sie nahm seinen Ton auf, und wie die Hörer in den Märchen fragte sie: »Und was geschah diesem Manne?« – »Um das zu erfahren«, hatte der Vater erwidert, »werde ich in die dämmerige Höhle gehen«, und er hatte den sanft dringlichen Blick nicht von ihr gelassen. Er gönnte ihr eine kleine Weile, sich zurechtzufinden in dem, was er ihr da eröffnet hatte; dann hatte er weitergesprochen: »Als du ein Kind warst, meine Tochter, habe ich dir gesagt, du werdest einmal wählen müssen. Nun ist es an dem. Ich rate dir weder ab, mir zu folgen, noch rede ich dir zu. Es sind hier viele Männer, junge, kluge, gebildete, treffliche, die sich freuen werden, dich zur Frau zu haben. Wenn du es willst, gebe ich dich einem von ihnen, und deiner Mitgabe sollst du dich nicht zu schämen haben. Überdenk es gut, und in einer Woche werde ich dich fragen, wie du entschieden hast.« Sie aber hatte ohne Zögern geantwortet: »Will mein Vater mir die Gunst erweisen, mich schon heute zu fragen, jetzt?« – »Also frage ich dich jetzt«, hatte der Vater erwidert, und sie hatte gesagt: »Was mein Vater tut, ist recht, und wie er tut, will auch ich tun.«
Das Herz war ihr warm geworden, da sie sich ihm so innig verknüpft fand, und auch über sein Gesicht war eine große Freudigkeit gegangen.
Dann hatte er ihr erzählt von der abenteuerlichen Welt der Juden. Immer hatten sie gefährlich leben müssen, auch jetzt waren sie bedroht von Moslems wie von Christen, und das war eine große Prüfung Gottes, der sie einzigartig gemacht und sie auserwählt hatte. Inmitten dieses Volkes aber, des berufenen, lange geprüften, war wiederum ein Geschlecht auserwählt: die Ibn Esras. Und nun hatte Gott ihm, einem dieser Ibn Esras, die Sendung auferlegt. Er hatte die Stimme Gottes gehört und hatte geantwortet: Hier bin ich. Und wenn er bisher nur am Rande der jüdischen Welt gelebt hatte, so mußte er sich jetzt aufmachen, mitten in diese Welt hineinzugehen.
Daß der Vater sie in sein Inneres hatte schauen lassen, daß er ihr vertraute wie sie ihm, hatte sie ganz zu einem Teil von ihm gemacht.
Jetzt, angelangt am Orte ihrer Bestimmung, entspannt im Bade, hörte sie im Geist alle seine Worte wieder. Leise freilich in diese Worte hinein klang das haltlose Weinen ihrer Freundin Layla. Aber Layla war ein kleines Mädchen, sie wußte nichts und sie verstand nichts, und Raquel war dem Schicksal dankbar, das sie zu einer Ibn Esra gemacht hatte, und sie war glücklich und voll von Erwartung.
Sie erwachte aus ihrem Geträume und hörte wieder das Geschwatz ihrer lieben, dummen alten Amme Sa’ad und der geschäftigen Fátima. Die Frauen liefen ab und zu, aus der Badekammer ins Schlafzimmer und zurück, und konnten sich nicht zurechtfinden in den neuen Räumen. Es lächerte Raquel, sie wurde kindisch und albern.
Sie richtete sich auf. Sah an sich herunter. Dieses nackte, blaßbräunliche Mädchen, das dastand, überrieselt von Wasser, war also keine Rechja mehr, sondern Doña Raquel Ibn Esra. Und lachend und ungestüm fragte sie die Alte: »Bin ich nun anders? Siehst du, daß ich anders bin? Sag schnell!« Und da die Alte nicht gleich verstand, drängte sie, immer lachend und herrisch: »Ich bin doch jetzt eine Kastilierin, eine Toledanerin, eine Jüdin!« Die Amme Sa’ad, bestürzt, plapperte mit ihrer hohen Stimme: »Lade doch keine Schuld auf dich, Rechja, mein Augapfel, mein Töchterchen, du Rechtgläubige. Du glaubst doch an den Propheten.« Raquel, lächelnd und besinnlich, erwiderte: »Beim Bart des Propheten, Amme: Ich weiß nicht genau, wie weit ich hier in Toledo an den Propheten glaube.« Die Alte, tief erschreckt, wich zurück: »Allah behüte deine Zunge, Rechja, meine Tochter«, sagte sie. »Solche Scherze solltest du nicht machen.« Raquel aber sagte: »Wirst du mich gleich Raquel nennen! Wirst du mich endlich Raquel nennen!« Und: »Raquel! Raquel!« rief sie. »Sags nach!« Und sie ließ sich zurückfallen ins Wasser, daß es die Alte überspritzte. Als Jehuda sich in der Königsburg meldete, empfing ihn Don Alfonso sogleich. »Nun also«, fragte er mit trockener Höflichkeit, »was hast du erreicht, mein Escrivano?«