Er ging zu Jehuda. »Es tut mir leid, Don Jehuda«, begann er, »dich noch im Castillo Ibn Esra vorzufinden. Es gibt schwerlich einen Ort, der dir heute weniger Schutz böte.« Sie wollen mich aus den Mauern haben, dachte Jehuda bitter, sie wollen mich los sein, und mit spöttischer Höflichkeit erwiderte er: »Seit deiner ersten gütigen Warnung habe ich mehrmals bedacht, ob ich mich nicht mit meiner Tochter und meinem Freunde Musa aus dem Lande machen sollte. Aber der König Unser Herr ließe mich verfolgen. Glaubst du das nicht auch, Don Ephraim? Und ich sehe nicht, wie ich mich durch das riesige Gebiet der Christenheit heil in den Bereich des Sultans durchschlagen könnte. Ihr müßt meine Anwesenheit in Toledo verzeihen, du und die Aljama.«
Ephraim sagte: »Die Judería hat gute Mauern und fünfzehnhundert waffenfähige junge Männer, sie zu verteidigen. Sie scheint mir heute die rechte Stätte für dich, Don Jehuda.«
Jehuda verbarg nicht seine Überraschung; er erkannte sogleich die ganze Großmut dieses Angebots. »Vergib mir meinen törichten Spott«, sagte er mit ungewohnter Wärme. »Ich habe nicht viele Freunde gefunden in meinem Leben, ich hatte so viel Menschlichkeit nicht erwartet.« Erregt, der sonst so Beherrschte, ging er auf und ab. Blieb vor Ephraim stehen, redete auf ihn ein, und nun sprach er hebräisch: »Aber hast du auch bedacht, mein Herr und Lehrer Don Ephraim, wie viel von ihrer Sicherheit die Judería verliert, wenn sie mich beherbergt?« Ephraim antwortete: »Es sei ferne von uns, einem Manne, der uns so viel Gutes erwiesen hat, unsere Tore zu verschließen in den Tagen der Bedrängnis.«
Jehuda, voll von zwiespältigen Gefühlen, fragte: »Gilt diese Einladung auch für Doña Raquel?« Ephraim, nach einem winzigen Zögern, erwiderte: »Sie gilt auch für deine Tochter.« Er drängte: »Es geht um dein Leben, Don Jehuda; du bist klug und weißt es so gut wie ich. Wir werden vielleicht für deine Rettung mit Blut zahlen müssen; du hast es gesagt, und ich widerspreche dir nicht. Aber wir sind überzeugt, das Opfer wird Gott wohlgefällig sein. Du hast dich zu uns bekannt freien Willens und als es hohen Einsatz kostete. Ich bitte dich, sei nicht stolz in dieser Stunde. Gib uns Gelegenheit, dir zu vergelten.«
Jehuda sagte. »Ihr seid opferwillige Leute, und ich bin versucht, eure Einladung anzunehmen. Denn mein Herz ist voll Angst, ich leugne es nicht. Aber etwas in mir hält mich zurück. Ich könnte mir und dir vormachen, ich möchte euch nicht gefährden; aber das ist der Grund nicht. Auch mein Stolz ist nicht der Grund; bitte, glaub es mir. Es ist ein Tieferes. Sieh, noch ganz zuletzt hat dieser König mich gezwungen, mein Siegel zu setzen neben das seine unter jenes freche Schreiben an den Kalifen. Da hab ich von neuem erkannt: mein Schicksal ist nun einmal verflochten mit dem dieses Königs von Edom. Ich habe ein hohes Spiel gespielt, aber ich will nicht davonlaufen am Tage der Rechenlegung.« – »Bedenk es noch einmal«, beschwor ihn Ephraim. »Du läufst Adonai nicht davon, wenn du untertauchst in seinem Volke, zu dem du dich bekannt hast unter Opfern. Es ist spät, Don Jehuda. Morgen wird vielleicht keine Zeit mehr sein, dieses Haus zu verlassen. Komm mit mir. Nimm deine Tochter und komm.«
Jehuda sagte: »Du bist ein mutiger, gütevoller Mann, Don Ephraim, und ich danke dir, Gott erhöhe deine Kraft. Aber ich kann mich jetzt nicht entscheiden. Ich weiß, die Stunde verrinnt. Aber ich kann nur meinem eigenen Herzen folgen, ich kann jetzt nicht mit dir gehen.«
Ephraim, in schwerer Trübsal, sagte: »Ich schicke dir später nochmals einen Boten, und ich hoffe, du besinnst dich anders und kommst zu uns, du und deine Tochter. Der Allmächtige lenke dein Herz zur rechten Entscheidung.«
Jehuda, sich überwindend, sagte: »Bevor du gehst, mein Herr und Lehrer Ephraim, laß mich dich noch um eines bitten. Mein Enkelkind ist in Sicherheit, doch weiß ich nicht, wie lange diese Sicherheit währt. Ich weiß nicht einmal genau, wo das Kind heute ist. Der einzige, der darum weiß, ist mein Ibn Omar, den du kennst. Du wirst ihn ausfindig machen, wenn die Läufte ruhiger sind. Ibn Omar ist ein verständiger Mann, er weiß um meine Absicht und um meinen Willen, er wird dir Rede stehen. Der König von Edom will sein Söhnchen, meinen Enkel, zum Grafen von Olmedo machen. Sieh zu, daß der Knabe vor ihm verborgen bleibt. Sieh zu, daß er kein Meschummad wird. Laß den Knaben nicht wissen, wes Vaters Sohn er ist. Schütze ihn vor Edom und dem Glauben Edoms.«
»Das werde ich tun, Don Jehuda«, versprach ihm Ephraim. »Und wenn die rechte Zeit kommt, werde ich den Knaben wissen lassen, daß er ein Ibn Esra ist.« Er wandte sich, zu gehen. »Der Herr sei mit dir, Jehuda«, sagte er. »Ich bin dir sehr freund. Wenn wieder einmal Hader zwischen uns sein sollte, dann denk an diese Stunde, und auch ich will daran denken. Und wenn wir uns nicht wiedersehen sollten, dann wisse, daß viele Tausende deines Volkes dein Andenken segnen. Sei Friede mit dir, Jehuda.« – »Mit dir sei Friede, Ephraim«, sagte Jehuda. Jehuda, nachdem ihn Ephraim verlassen hatte, hockte lange wie ausgeleert. Er bereute es nicht, daß er Ephraims Angebot abgelehnt hatte, er war ein mutiger Mann. Aber er hatte viele Menschen sterben sehen und wußte genau, worum es ging. Er wußte: das arabische Wort, welches den Tod den Vernichter aller Dinge nannte, war mehr als hohler Schall, und schämte sich nicht, zu zittern, wenn er an die schwarze Leere dachte, in die er fallen sollte.
Es war ihm Erleichterung, daß Ephraim seine Antwort nicht als endgültig ansah. Immer neue Bedenken kamen ihm. Riß er nicht die Tochter mit in den Untergang? Er mußte sie fragen, bevor er endgültig wählte. Ihrer Entscheidung wird er sich fügen.
In dürren Worten sprach er ihr von dem Tod, der jetzt hier in Toledo überall nach ihnen griff, und von dem Angebot Ephraims, sie in die Sicherheit der Judería aufzunehmen.
Raquel hatte von der Niederlage Alfonsos gewußt, aber erst jetzt, da der Vater sprach, erkannte sie ihren ganzen, furchtbaren Umfang. Sie spürte grauenvolle Angst für sich und den Vater, aber mehr noch Mitleid mit Alfonso. Dieser Mann, dieser König, der nichts war als Strahlen und Sieg, konnte er den Zusammenbruch überstehen? Und während sie spöttisch und zärtlich dachte: Nun wird er mir nicht mein Sevilla zeigen, der Arme, Unselige, sah sie vor sich sein Gesicht, trotzig, wütend, voll von fressendem Leid. Und gleichzeitig jubelte es in ihr: Nun wird er bald, sehr bald wird er in der Galiana zurück sein. Er hat es mir versprochen. Und kein Panzer und Eisen wird mehr um ihn sein, und meine Worte werden eingehen in seine Brust.
Ohne Zögern, sowie Jehuda zu Ende gesprochen hatte, antwortete sie: »Es ist mir nicht erlaubt, in die Judería zu gehen, mein Vater. Don Alfonso hat mir aufgetragen, in der Galiana auf ihn zu warten.«
Es traf den Jehuda ins Herz, daß sie an nichts anderes dachte als an den Wunsch Don Alfonsos. Er sagte: »Da es so dein Wille ist, meine Tochter, gehe auch ich nicht in die Judería.« Doch sprach er nicht mit der gewohnten Entschiedenheit, vielmehr schaute er ihr prüfend in das stille Gesicht. Noch war in ihm eine kleine Hoffnung, sie werde widersprechen: Nein, mein Vater, ich will nicht, daß du untergehst. Ich will, daß du lebst. Ich folge dir, wie immer du entscheidest. Aber sie sagte nichts, und er dachte bitter: Ich selber habe sie dem Manne übergeben. Ich habe sie dem Manne zugetrieben. Ich darf nicht klagen, wenn sie mich jetzt sterben läßt, ehe sie handelt gegen den Wunsch des Mannes.
Plötzlich, aufleuchtend, bat sie: »Komm doch du zu mir, mein Vater. Komm du zu mir in die Galiana.« Er ahnte, was in ihr vorging, ihr lebendiges Gesicht ließ es ihn wissen. Sie hatte begriffen, in welcher Gefahr sie beide waren, aber trotzdem glaubte sie, in der Galiana sei Sicherheit; sonst hätte Alfonso ihr nicht aufgetragen, dort zu bleiben. Er, Jehuda, wußte: dies war Traum und Wahn; er wußte: sie gefährdete ihn, er sie, keiner konnte keinem helfen. Aber es war eine tröstliche Vorstellung, zusammenzusein in der äußersten Stunde, und er zerstörte nicht ihren Traum.
Er willigte ein, noch in dieser Nacht mit ihr in die Galiana zu gehen.