Indessen fragt der Mann: «Wo ist der Prinz?» Hält fünf Schritte vor ihm und sieht ihn nicht, obwohl er ganz nackt ist! Beauvois beantwortet die Frage nicht, sondern wartet aufmerksam — scheu, hätte man gesagt, wenn Beauvois scheu sein könnte. Der Diener seinerseits verzieht sich in eine Ecke und nimmt das Hemd mit. Der Knabe fühlt sich sonderbar allein, entkleidet, vollkommen sichtbar, auch die Fehler, auch das Schlechte. Er beginnt zu fürchten, das Ereignis werde darauf hinauslaufen, daß er die Peitsche bekommt. O alter Mann, so hager, eisengrau von Haaren und die Wangen hohl, so sieh mich endlich und dann geh wieder!
Längst hält der Mann ihn im Auge, durchforscht die Gestalt und das kleine Menschengesicht; das weiß nur niemand, sein eigener Blick ist verhängt und kommt von weiter her als aus fünf Schritten Abstand. Außerdem lenkt er ab, durch unbegründete Bewegungen, springt zurück, stößt Beauvois an, murmelt Entschuldigungen, hört überhaupt nicht auf zu murmeln, viel zu spät aber fällt ihm ein, sich zu verbeugen. Er schwenkt dabei seinen großen Hut, und aus Ungeschicklichkeit schleudert er ihn fort, dem Prinzen vor die Füße. Hier tut Henri etwas, das nicht seinem Rang entspricht. Er weiß nicht warum, er hebt den Hut auf und bringt ihn dem Mann, einem Mann, der höchstens ein Arzt, aber für einen Arzt zu ungeschickt ist.
Da stehen sie nahe voreinander, der Hagere sieht hinunter, der Kleine erhebt angestrengt das Gesicht — umsonst; der unfaßbare Blick dieser Erscheinung zieht einen Vorhang bis über seine Wangen und den Hals, übrig bleibt das Gerüst ohne Kopf, ein Schleier statt des Kopfes. Der Knabe fürchtet sich, und nicht mehr vor Prügeln.
Der Mann hat aufgehört zu murmeln, er denkt: ‹Was sage ich?› Er fühlt: ‹Dies ist ein Kind. Es ist das Unerfüllte, Grenzenlose, es hat, so schwach es ist, mehr Macht und Gewalt als alle, die schon gelebt haben. Es verspricht Leben und ist daher groß. Es ist das allein Große. Welch ein tapferes Gesicht!› sieht er, als Henri grade am meisten Furcht hat.
«Er ist es!» spricht er laut und wendet sich zu Beauvois, der geduldig wartet. «Wenn Gott Ihnen die Gnade erweist, so lange zu leben, werden Sie als Herrn einen König von Frankreich und Navarra haben.»
Das ist alles, was er laut spricht — versucht nicht noch einmal, sich zu verbeugen, geht schon aus der Tür. Der Herr von Beauvois öffnet sie ihm.
«Ich danke Ihnen», sagte er. «Auf Wiedersehen, Herr Nostradamus.»
Henri aber fühlt: Das ist keiner von denen, die man wiedersieht. Grade darum wird er die Erscheinung im Gedächtnis bewahren.
Die Zusammenkunft
Ausserdem aber drangen nun in jenen Tagen Gerüchte und Voransagen auf ihn ein; es war unmöglich, zu vergessen, was damals geschah. Wo der Prinz von Navarra immer hinkam mit seinen protestantischen Begleitern, begrüßten die von der Religion ihn mit ungewohnter Heimlichkeit und bestürzten Gesichtern.
«Reisen Sie nicht weiter, Herr. Bleiben Sie in unserer Mitte, wir werden eher alle sterben, als daß wir Sie unseren Feinden überlassen.» Ähnliches hörte er überall.
Ein weißhaariger Hugenotte, der sich von seinen Enkeln hatte herbeitragen lassen, erhob seine zitternde Hand zum Segen und sprach aus tiefer alter Brust:
«Ich lobe Gott, daß ich Sie gesehen habe. Nachdem wir alle ausgerottet sind, werden Sie, Herr, uns rächen und die Religion zum Siege führen.»
Dann folgten von allen Seiten die bekannten Beschwörungen, er möge sich der Weiterreise um des Himmels willen entziehen.
Nachher erwiderte Beauvois auf die Fragen Henris:
«Lassen Sie sich nicht erschrecken! Mögen diese Leute sich fürchten; das wird sie eifriger im Glauben machen. Sie sehen das Schlimmste voraus, weil die Königinmutter nächstens mit den Spaniern zusammenkommen soll. Wir aber kennen doch Madame Catherine. Die List liegt ihr näher als ein großes Gemetzel.»
«Wenn aber der Teufel aus Spanien es ihr befiehlt?» bemerkte Henri, ohne auch nur eine Antwort zu erwarten, so gewiß war er der habsburgischen Todfeindschaft und sollte es immer bleiben.
Beauvois versuchte dem Knaben zu erklären, daß Katharina vielleicht nichts weiter vorhabe, als sich vor der katholischen Weltmacht zu rechtfertigen, dafür, daß sie ihren eigenen Protestanten nicht immer nur Heere entgegenschickte, sondern sie manchmal durch Nachgiebigkeit zu fangen versuchte. Im schlimmsten Fall konnte sie Philipp um Hilfe bitten, weil ihre reformierten Untertanen nicht anders zu bändigen waren.
Umsonst, Erwägungen drangen nicht bis in das Innere Henris, seine Phantasie erfüllte es ganz mit Bildern. Sie wurde in ununterbrochener Bewegung erhalten durch das Geraune um ihn her, die Mienen der Sorge und die ahnungsvollen Stimmen, die seine Reise begleiteten. Am Ziel — mußte eintreten, wessen er voll war. Er wußte nicht was, aber das Unbekannte stand bevor, und kam es nicht wirklich, dann war er dennoch bereit, es zu sehen und zu hören.
So erreichte er, im Gefolge der Größeren, die Stadt Bayonne, ganz nahe dem Lande Bearn, seiner Heimat. Hier hatte er sich auf alles gefaßt zu machen, dies war der Ort, grade dieser, an dem er mit Vater und Mutter von klein auf zu Hause gewesen war. Sanft wie die von je bekannten Laute seines Namens zog hindurch der Fluß Adour, und was im dunkelblauen Himmel zerging vor lauter Licht, jene Gipfel waren seine Berge, die Pyrenäen. Henri, der nach ihnen Sehnsucht gelitten hatte, dachte jetzt nicht ein einziges Mal daran, in sie zu flüchten.
Als die Spanier endlich ankamen, war es eine junge Frau, Elisabeth von Frankreich, Königin von Spanien, die eigene Tochter Katharinas, und als der höchste ihrer Begleiter der Herzog von Alba. Mit ihm unter vier Augen führte Madame Catherine ihr wichtigstes Gespräch.
Der Saal war von außen bewacht. Als erste erschien die alte Königin, sie ging die Fensterseite ab und hob alle Vorhange auf. Gegenüber hingen an der Wand nur Bilder. Dann setzte sie sich in einen hohen graden Sessel, mit dem Blick auf die Tür. Hinter ihr war der Kamin. Grüne Zweige füllten seine große Öffnung aus; es war Mitte Juni.
Der Herzog von Alba trat ein, den Kopf aufgereckt aus seiner steifen Krause. Er beugte ihn nicht und nahm den Hut nicht ab. Er bog beim Schreiten die Knie so wenig wie möglich; sein Gesicht war unjung, aber spurenlos. Kein Erleben hatte darin zurückbleiben können, es war zu hochmütig.
Er blieb stehen — nicht aus Ehrerbietung, sondern wie ein Ankläger, und ohne Vorbereitung eröffnete er der alten Frau, daß sein Herr, der große König Philipp, mit ihr unzufrieden sei. Sie nahm es ohne Erwiderung hin; der Herzog erwartete auch keine, sondern sprach im härtesten Ton von ihren versäumten Pflichten gegen die heilige Kirche und ihren weltlichen Arm, der das Schwert führte, das Haus Habsburg. Sie nahm alles hin, bis er fertig war.
Darauf fragte sie mit ihrer fetten Stimme, wieviel Geld der König von Spanien ihr anböte, damit sie ihr ganzes Königreich katholisch machte. Das wäre teuer, setzte sie hinzu.
Der Herzog sagte: «Gar nichts. Oder Sie nehmen auch unsere Truppen auf und anerkennen Don Philipp als den höchsten Herrn über das Königreich.»
Katharina sagte, und diesmal schwankte ihre Stimme, das könnte Gott nicht wollen, denn er hätte ihr das Königreich anvertraut und ihr Söhne geschenkt. Aber sie verspräche dem König Philipp, daß sie seinen Zorn durch Duldung der Ketzerei nicht länger herausfordern würde. Ihre Absichten wären immer die besten gewesen, nur hätte sie die unzulängliche Macht ersetzen müssen durch Klugheit.
«Wieviel kostet hierzulande ein Dolchstoß?» fragte Alba.
Katharina atmete mehrmals hörbar, sie versuchte wohl zu lächeln, ihr Ton wenigstens wurde spöttisch.