Gerade in diesem Augenblick suchte er unter dem Tisch ihre Hand und drückte sie. Zuerst erschrickt sie. Befangen in ihren Ängsten, denkt sie schon: ‹Abschied von Margot!› Dann erschrickt sie nochmals, aber vor Freude, weil es soweit nicht ist, und das Schlimmste ist noch aufgeschoben. Das Blut strömt ihr zum Herzen; schnell, heimlich beugt sie sich über seine Hand und küßt sie. Nachher hält sie sich im Gegenteil sehr gerade, weint nicht mehr, blickt niemand an — hat begonnen, sich im voraus zu entfernen von hier, fühlt es, will sich selbst zurückrufen, findet keine Wiederkehr. Margot! Nie mehr? Wende dich her, wenn du kannst! Du kannst nicht? Mußt verblassen, mußt entschwinden? Margot!
Das Begräbnis
Der letzte König aus dem Hause Valois liebte zu tanzen, und dies für sich allein, auf kindische Art, aber immer mit dem verdunkelten Gesicht, das er nicht ändern konnte. Plötzlich fiel ihm ein, den sorgfältig ins reine geschriebenen Akt beiseite zu legen und seinen Pelzrock auszuziehen. Weißseidenes Wams und schmale Hüften, eine verspätete Knabengestalt, so bewegte er sich hin und her vor einem Spiegel, den seine Diener eigens hinstellten. Eine entfernte Musik spielte zu dem Zweck, und der König im stillen Zimmer machte gewählte Schritte, erging sich in Haltungen und Figuren, deren Anmut maßlos war. Unter gesenkten Lidern sah er in dem hellen Glas sich selbst nach wie einem Fremden. Das war nicht er. Leider fühlte er sich nicht als heiteren Tänzer, nicht vom Himmel begnadet, leicht und ohne Erinnerungen. Ihm folgten sie auf Schritt und Tritt: nur die ersehnte Gestalt im Spiegel hatte keine — hatte auch keinen Kopf, denn der Rahmen schnitt ihn ab. Sein Kopf, von schwärzlichen Geistern umschwebt, sann dem Ende nach.
Sein Bruder Franz war hoffnungslos erkrankt; das Blut trat aus ihm, wie einst aus seinem anderen Bruder Karl. In Flandern hatte er den Rest seiner Kräfte unnütz wie alle früheren vertan, lag jetzt und starb. Der König war kinderlos, und hoffte auf keinen Dauphin mehr, denn nichts hatte geholfen, weder die Bäder der Königin noch die große Wallfahrt mit Füßen voll Blasen noch ein inständiger Bittgang des ganzen Hofes durch die Kirche Notre-Dame. Alles war getan; Angst, Ruhelosigkeit und die Qualen des Ungewissen hätten halbwegs zurückbleiben sollen hinter einem, der allein auf das Ende zugeht. Indessen mit der beschlossenen Unfruchtbarkeit und dem höheren Urteil, auszusterben, findet man sich nicht auf einmal und endgültig ab — nicht Valois kann es. Zweihundert Jahre der Herrschaft seines Geschlechtes sind herum, er soll sie abschließen. Nur zeitweilig scheint ihm das Opfer schon gebracht; unbeirrt und unbetrogen hält er den Sinn auf das Ende gerichtet und übt sich im täglichen Schauder des Endes, bis auch der vielleicht abgenutzt sein wird und der Tod keinen Schrecken mehr hat. Der Tod wäre zuletzt nicht furchtbarer für den Inbegriff ganzer Zeitalter und eines aussterbenden Königshauses als für einen einzelnen Menschen in seiner Schwäche.
Um dies womöglich zu erreichen, tanzte der König allein, oder fing stundenlang einen kleinen Ball in einem Schälchen auf, oder schlang sich ein blaues Band um den Hals, daran hing ein Korb mit jungen Hunden. Die krochen und winselten: sie lebten, besorgten es für ihn, er brauchte sich nicht zu rühren. Als der Tod seines letzten Bruders ihm gemeldet wurde, stand er selbst ganz wie ein Toter; erwachte auch nicht, antwortete nicht. Die Eingedrungenen verstummten darüber, sie waren versucht, ihn mit dem Finger anzustoßen.
Der Hof erwartete von ihm, daß er jetzt wieder einmal den Mönch spielen würde, im Chor singen mit den anderen Brüdern, bei goldenen Leuchtern und Räucherfässern, die er selbst entwarf aus Sehnsucht, etwas zu erzeugen. Nein, er veranstaltete Trauerfeierlichkeiten, schön wie eine Hochzeit. Das Volk mußte an ihnen teilnehmen, bezahlte sie übrigens so gut und so teuer wie die Hochzeiten der königlichen Lieblinge. Die ganze Geistlichkeit war aufgeboten für das Trauergeleit, darunter dieselben Priester, die von der Kanzel predigten gegen den König. Auf sie folgte der Sarg, getragen von Edelleuten des Toten, und hinter ihm der König — von seinem Haus, das in Särgen lag, nur noch er. Man wunderte sich: der Valois handelte, als wollte er besonders zur Schau stellen, wie allein er war, jetzt und immer. Schwarz verhangene Straßen, und in dem Zuge ging er allein, ohne seine unfruchtbare Königin, mit Abstand von allen anderen, lauter Fremden. Vor ihm der Sarg seines letzten Bruders war eingehüllt in Fahnentuch aus Feldzügen, die der Verstorbene geführt hatte mit zweifelhaften Ehren, und manche gegen seinen königlichen Bruder. Dieser hatte ihm den Tod gewünscht, und nun der Wunsch eingetroffen war, ging er im Zug allein, zwischen dem Sarg und den Fremden.
Den Vortritt unter seinem Gefolge hatten die Günstlinge Joyeuse und Epernon, er hatte sie ausgestattet mit Herzogtümern und ihnen die beiden Schwestern der Königin gegeben. Dann kamen schon gleich seine Feinde, die ihn gegen seinen Willen zu beerben dachten, die Guise.
Sie traten größer auf als sogar der König, ihr eigenes Gefolge prangte zahlreicher, viel edler die Pferde, die man an den Zügeln mitführte. Sie selbst waren Gestalten von hervorstechender Machtfülle. Der Herzog von Guise hatte inzwischen harte Züge bekommen. Er strahlte nicht mehr hell wie einst über Volk und ehrbare Leute hin, der Traumheld ihrer Frauen. Das hatte er nicht länger nötig: so wenig das Verführen wie das Beschenken. Jetzt wurde befohlen. Weder Bürger noch Bauer wurden um ihre Stimme ersucht, sondern wer der Liga nicht beitrat und dem Führer blinden Gehorsam schwor, war verloren. Tu Arbeitsdienst und leist ihm deine Wehrpflicht! Zahl ihm Abgaben, sei tagelang auf den Beinen trotz deinen Krampfadern, bei allen Kundgebungen der Partei, sooft er ihre Massen aufruft! Wo nicht, verlierst du Arbeit und Absatz, du bist geächtet, nur dem Spion und Verräter, der dich ausliefert, lohnst du die Mühe. Wer nachher deine Leiche findet, macht einen Bogen.
Ein mörderischer Geheimbund schwillt an unaufhaltsam, er legt sich über den Staat und saugt ihn in sich auf, während die Gesetzlichkeit nachgerade kraftlos aussieht wie dieser König unter seinem Baldachin bei dem Begräbnis seines letzten Bruders. Heute beredet der halbe Trauerzug — Geistlichkeit, Armee und Hof, die ehrbaren Leute und das Volk, alle bereden heute seine Nachfolge, nicht anders, als begrüben sie ihn selbst. Morgen werden seine eigenen Lieblinge zu den Guise überlaufen, die Liga wird ihn lebend von der Erde vertreiben, ihn fortdrängen auf einen letzten Fleck, bis jemand ihn tötet. Er weiß im Grunde viel voraus — zwingt sich, aufrecht zu schreiten unter seinem Dach aus gewirktem Gold, und hört, was nicht für ihn bestimmt ist: wie sie untereinander seine Provinzen verteilen, ihre Ansprüche anmelden auf die Ämter, Finanzen und die Kriegsmacht. Er hört es nicht wirklich, der Abstand zwischen ihm und allen wäre zu weit: er fühlt. Sein Inneres zittert von Ahnungen, die Geräuschen gleichen. Er schließt die Augen und meint bei Nacht durch einen gefahrvollen Wald zu irren. Wer verteidigt ihn? Da schrickt er auf — ein Getümmel. Auf den Stufen dieser Kirche schreit ein Haufe: «Valois, verrecke!» — was ihm nicht neu ist.
Dergleichen wird bestellt und bezahlt, er weiß von wem. Einschreiten der Wache, die Schreier flüchten, Gedränge, der Zug kommt ins Wanken. Der Baldachin sinkt, er knickt langsam ein über dem König, der sich bückt, der ein Knie beugt, dann beide, endlich aber legt er sogar die Stirn auf die Steine.
Als er aufgerichtet und wieder ganz bei Sinnen ist, haben die Guise ihn zu seinem Schutz umringt. Sie verdecken ihn dem Volk, das nur sie erblickt und ihnen zuruft. Der Kardinal von Lothringen zeigt ohne Scham ein großartiges Verbrechergesicht. Der zweite, Mayenne, stellt mehr Leibesumfang zu Schau, als tückische Menschen haben können: das ist erprobt und bekannt. Der Herzog — «Großer Mann!» spricht sein besoldeter Chor. «Heil!» brüllt sein mörderischer Geheimbund, den er total und eins mit dem Land will. Dies ganze Volk ein mörderischer Geheimbund, das denkt er zu erreichen, nur wenig steht hinderlich davor, wie er meint. Der Herzog — «Großer Mann! Heil!» — macht keinen Gütigen mehr, sondern den Strengen. Seine Maske ist gewulstet von harten Muskeln, die Entschlossenheit verkünden. Er wird zwar das Königreich unter zwölf seiner obersten Schurken aufteilen nach der Verdrängung des Königs in den letzten Winkel, und alle Unterschurken sollen stehlen und töten dürfen. Vorausgesetzt bleibt ihre eigene stramme Unterwerfung, sonst werden sie selbst die viere von sich strecken und starr sein anstatt stramm. Das ist beschlossen, seht die Muskelbündel um den Mund des Führers. Töten und getötet werden, eine Bartholomäusnacht ohne Ende soll das Reich des Führers sein, heil!