Sehr vieles schoß ihm dabei durch den Sinn, sehr vieles. Er verzog aber keine Miene, stieg zu Pferd und hob die Hand. Alles setzte sich in Bewegung, die Kutsche mit ihrem Sechsgespann, die Vorreiter, Begleiter, der Nachtrab — und auch das Regiment von Navarra im Eilschritt, leicht und munter. Es kam zu Fuß mit, denn der königliche Aufzug jagte nicht mehr. Er hatte nach Flucht ausgesehen — als wäre der König von Frankreich aus seiner Hauptstadt geflüchtet ohne Aufenthalt bis in seine entfernteste Provinz. Nicht anders hatte es sich zugetragen: Henri begriff es, so überrascht er war. ‹Ist er zu mir gekommen? So weit wäre es schon, daß er sich rettet zu mir? Ich aber will machen, daß es dich nie gereuen soll, Henri Valois› — dachte Henri Navarra, denn er hatte auf diesem Weg ein hohes und gerührtes Herz.
Es war Abend, als sie die Stadt erreichten. Die Torwache erfuhr nicht, wer in der Kutsche saß, und Einwohner, die aus den Fenstern blickten, erkannten nur wenig im Dunkeln. Der Zug und Aufmarsch bewegte sich ohne Licht; wenn aber eine Laterne über der Straße hing, schickte der König von Navarra jemand vor, sie auszulöschen. Das Zeichen anzuhalten gab er beim Rathaus. Als er vom Pferd stieg, öffnete sich schon der Wagenschlag. Der König kam hervor: sogleich umarmte er seinen Vetter und Schwager wortlos, sagte auch nachher nichts. Er hatte sich, mehr als er selbst wußte, gesehnt, einen Menschen seines Stammes, wenn auch im einundzwanzigsten Grade, zwischen seinen Armen zu halten.
Hierbei störte den König, was um ihn her war, das Gebäude sowie die Truppe, die den Platz und die Straße bedeckte. Aus dem Hause wurde eine Lampe gebracht, daher bemerkte Henri im Gesicht des Königs das Erschrecken und hereinbrechende Mißtrauen. «Ich will zu dem Marschall de Matignon», sagte der König. Er erinnerte sich wieder, daß er gegen den Gouverneur seinen Stellvertreter ausspielen mußte. Kein Abweichen von der Übung!
«Sire! Er ist nicht in Bordeaux, und die Besatzung seiner Festung läßt uns sicher nicht ohne Umstände ein. Dagegen bin ich im Rathaus wohlgelitten. Eure Majestät wird hier gut aufgenommen und sicher sein.»
Auf diese leichtfertigen Worte des Schwagers und Vetters verdüsterte der König sich noch mehr. Er witterte Absicht und Vorbedacht und hatte sogar Recht damit; denn auf dem Herwege war Henri auch durch sein hohes und gerührtes Herz nicht verhindert worden zu überlegen, wie und wo er den Valois am besten in seine Macht bekäme. Das war im Rathaus, dort regierte sein Freund Montaigne. Er folgte dem Blick des Königs und sagte: «Mein Regiment hat einzig im Sinn, wie es Eure Majestät schützt.»
Der König erwiderte hochmütig: «Ich habe selbst Regimenter.»
«Ihre Reiter, Sire, sind mit dem Marschall de Matignon über Berg und Tal, um sich gegen die meinen zu schlagen.»
Der König zuckte zusammen. In diesem Augenblick stand es bei ihm fest, daß er sich in eine Falle begeben hatte. Henri wurde vom Mitleid erfaßt bei dem Anblick; schnell neigte er sich zu dem Ohr des Königs und flüsterte dringlich: «Henri Valois, wozu bist du gekommen? Trau mir doch!»
Wirklich zeigte sich etwas Erleichterung auf dem armen Gesicht. «Laß deine Truppen abziehen!» verlangte der König ebenso leise. Sogleich befahl Henri dies; für seine Offiziere allein aber setzte er hinzu, das Regiment sollte innerhalb der Mauern bleiben, es sollte die Festung abschneiden und gegen Anschläge wachsam sein. Valois, wir sind einer vor dem anderen nicht sicher. Glücklicherweise konnte er ankündigen:
«Sire! Der Bürgermeister mit mehreren Herren vom Rat!» Vier Männer in Schwarz, sie knieten vor den König hin. Der mit der goldenen Kette begrüßte ihn in einem Lateinisch, dessen besondere Reinheit der König wohl erkannte, und hierauf französisch: das schien noch verdienstvoller, weil klassischer Ausdruck schwerfällt in der gewöhnlichen Sprache, besonders einem Mund aus dem Süden. Der König empfand Vergnügen, zeitweilig vergaß er beinahe die Gefahr. Er ließ die Männer aufstehen, und endlich betrat er das Rathaus. Einige sagten nachher, daß nur die Kunst des Herrn Michel de Montaigne ihn dazu vermocht habe.
Erbe der Krone
Zuerst führte der Bürgermeister den König in den größten Saal. Dieser hatte seit der überraschenden Ankunft der Majestät nicht schnell genug beleuchtet werden können. Die entfernten Schatten beunruhigten den König, er verlangte ein kleines helles Zimmer, daher öffneten sie ihm die Bibliothek des Bürgermeisters. Der König von Navarra befahl seinen Edelleuten, sich mit denen des Königs von Frankreich in die Bewachung zu teilen. Dieser wendete sich unter der Tür um und verlangte laut: «Hier vor der Tür nur meine!» Henri sagte in gleicher Stärke: «Meine besetzen den Ausgang!»
So gesichert überschritten die beiden diese Schwelle. Montaigne wollte zurückbleiben wie alle anderen; der König indessen hieß ihn mitkommen. Er setzte ein düsteres Lächeln auf, um zu sagen: «Herr de Montaigne, Sie sind ein Edelmann meiner Kammer. Hier ist es eng. Wenn Mörder eindringen, fallen wir in dem Getümmel alle drei. Wollen Sie mich noch rechtzeitig warnen vor einer Gefahr?»
Auch Montaigne verzog die Miene, vielleicht verlieh er ihr Ironie, gewiß Ergebenheit. Er versetzte: «Omnium rerum voluptas — Vergnügen machen alle Dinge gerade durch die Gefahr, die sie uns verleiden soll.»
«Sie haben viele Bücher», erwiderte hierauf der König, sah die Wände hinan und seufzte. Er dachte an seine Schreibereien, den bequemen Pelzrock, die Mönchskutte, mit der er sich vortäuschte, er hätte abgeschlossen. Hier mußte gekämpft sein.
«Werden wir hier etwas Rechtes schaffen?» fragte er; es klang nicht hoffnungsvoll. Sein Vetter und Schwager antwortete ihm: «An mir soll es nicht fehlen», wobei er anfing, das Knie zu beugen. Der König griff zu, zog ihn hinauf und sagte: «Lassen wir das Getue: die Zeremonien, mein ich. Sag, was du willst.»
«Sire! Ich bitte nichts als Ihre Befehle.»
«Ach was, fang an.»
Der König hatte mit den Augen die Wände abgesucht, ob eines der Büchergestelle in den Angeln bewegt werden konnte. Da er die geheime Tür, die er fürchtete, nicht fand, rückte er sich eigenhändig einen Sessel genau in die Mitte. Niemand wäre schnell genug herzugesprungen: er hatte manche Bewegungen eines Knaben.
«Sire, sollten nicht vielmehr Sie etwas von mir erwarten?» fragte Henri. «Ich werde alles gern besprechen mit meinen Freunden.»
«Das ist oft besprochen. Nur Sie haben sich zu entscheiden», erklärte der König, auf einmal förmlich, feierlich sogar. Henri wußte längst, was gemeint war: sein Übertritt zur katholischen Kirche. Er ging diesmal darüber hin, vielmehr erhitzte er sich künstlich, um heftig zu klagen gegen seinen Stellvertreter in der Guyenne. Ihm zufolge war Marschall Matignon nicht besser als früher Biron. Henri zog sogar den König selbst hinein. «Sie, der an mir wie ein Vater handeln sollten, führen Krieg gegen mich wie ein Wolf.» Der König hielt ihm vor, daß er nicht gehorchte. Henri entgegnete: «Meinetwegen können Sie ruhig schlafen. Dank Ihren Verfolgungen aber komm ich seit achtzehn Monaten nicht in mein Bett.»
«Was haben Sie durch Ihre Diplomaten nach England berichten lassen?» fragte der König: da mußte Henri wegsehen. Auf ihn würfen alle guten Franzosen die Augen, so hatte sein Mornay allerdings geschrieben; denn unter der gegenwärtigen Regierung fühlten sie sich übel, und von dem Herzog d’Anjou erwarteten sie künftig nichts, er hat schon Proben abgelegt. Ja, und jetzt ist er tot und war der letzte Bruder des armen Königs.
«Ich bitte Eure Majestät um Verzeihung», sagte Henri und begann nochmals das Knie zu senken. Da er aber nicht aufgehalten wurde, ließ er es von selbst. Der König glaubte streng bleiben zu dürfen nach dem erlangten Vorteil.
«Wollen Sie wirklich fortfahren, Ursache alles Elends zu sein, und das Königreich ins Verderben stürzen?»