Das Mädchen rang nach Luft und stürzte aus der Höhle.
In Alexandria
»Danach, Majestät«, sagte Mardian, »überließ man sich ganz der Zügellosigkeit.«
Kleopatra schwieg und brütete vor sich hin.
Dionysos war der Schutzherr des königlichen Hauses von Ägypten, sein Name wurde mit der gleichen Ehrfurcht angerufen wie der von Osiris. Ptolemaios IV. hatte ein Efeublatt auf dem Körper tätowiert gehabt, um sich als Anhänger des Gottes auszuweisen. Ihr Vater, als neuer Dionysos, verstand seine Rolle als Schirmherr der Künste. Nach der Legende war Dionysos, wie viele der alten Götter, von seinen Feinden ermordet und zerstückelt begraben worden. Zeus hatte ihn wieder zum Leben erweckt, ihn unsterblich gemacht und ihn als Wohltäter unter die Menschen geschickt. In Ägypten war die Anbetung des Dionysos eng verkettet mit der des Osiris.
Doch anders als Osiris besaß Dionysos eine Doppelnatur, seine geschlechtlichen Vorlieben waren nicht eindeutig. Da ihn der Mythos jedoch mit weiblichem Gefolge versah, besaß er vor allem unter den Frauen eine große Anhängerschaft und glich in diesem Punkt der Göttin Isis. Ausgeübt in reiner Form, suchte der Kult des Dionysos die Begegnung mit dem Gott durch Ekstase, nach der man mit rauschhaftem Trinken und Tanzen strebte. In früheren Zeiten gipfelten die Riten in einer Zeremonie auf einem Berg, wo sich die Anbeter ihren Gott in Form von wilden Ziegen einverleibten, die sie roh verschlangen und deren Blut sie tranken.
Die strengen, sittsamen Römer, die solche Exzesse abstießen, hatten den Kult verboten. Das hatte dazu geführt, daß er etlichen Völkern, die unter Rom litten, zum Ausdruck des Widerstands geworden war.
Und nun huldigte Antonius diesem Gott in aller Öffentlichkeit, ob als politische Herausforderung an Rom oder aus ureigenem Glauben.
»Was hat dein Spion sonst noch über dieses Fest herausgefunden, bei dem Antonius als Gott auftrat?« fragte Kleopatra.
»Nun, erst einmal hat er sich selbst in den Kult einweihen lassen«, berichtete Mardian. »Als Voraussetzung dafür durfte er tagelang nicht schlafen, mußte fasten und trank nur Wasser. Dadurch, so erklärte man ihm, reinigte er sich von den Sünden des irdischen Daseins und erschlösse sich den Weg zu einem guten Leben nach dem Tod. Für das Ritual wurde er als Frau verkleidet und denselben Peinigungen ausgesetzt, wie ich sie soeben schilderte. Danach erhielt er die Efeukrone und überließ sich sowohl dem Genuß des Weines als auch den Vergnügungen des Körpers. Die Erfahrung ist nach seinen Worten einmalig. Es war, wie er schreibt, als verließe man den Körper und bekäme einen Vorgeschmack auf die Ewigkeit.«
Kleopatra spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. War es das, was ihr Vater gesucht hatte, in den endlosen Orgien der Trunkenheit, die mit den ursprünglichen Riten nichts mehr gemein hatten? Sie konnte sich des Verdachts nicht erwehren, daß ihm mehr am Vergessen gelegen hatte als an der Ewigkeit. »Und was flüstert der Satyr dem Neuling ins Ohr, wenn er sich im Wasser sieht?«
»>Ich sehe, wie der Gott mich sieht<. Das behauptet jedenfalls mein Spion.«
»Ich sehe, wie der Gott mich sieht«, wiederholte Kleopatra nachdenklich. Eine gefährliche Spiegelung! Sie fragte sich, ob dies Teil der alten Riten war oder ob der unnachahmliche Marcus Antonius sich das selbst ausgedacht hatte. Er schien sich der Lust und dem Exzeß nun mit Haut und Haaren verschrieben zu haben - eine schmale Gratwanderung zwischen der Welt und dem Wahnsinn. Es würde schwer sein, ihn in die Wirklichkeit zurückzuholen. »Und welche Rolle spielt Octavia dabei?«
»Sie hört ja nur die Geschichten. Was soll sie also tun? Sie verbringt viel Zeit bei den Philosophen der Akademie.«
»Das leuchtet ein. Mit Antonius verheiratet zu sein erfordert ein hohes Maß an philosophischer Stärke. Ich danke dir, Mardian.«
Nachdem er sie verlassen hatte, stand Kleopatra lange Zeit am Fenster und schaute über die Halbinsel Lochias hinaus auf das Meer. Dahinter lagen sie auf der Lauer - der eine ein Göttersohn, der andere Dionysos höchstselbst. Beiden fehlte zur Vervollkommnung nur noch Ägypten. Ich bin gespannt, dachte sie, wer mich als erster besuchen kommt. Antonius, mit frisch tätowiertem Efeu und Bacchantenstab, oder Octavian, mit dem Schwert voraus, auf der Jagd nach Caesars Sohn.
Ich werde wieder einmal warten. Wahrscheinlich ist es Antonius. Der Große. Der Unnachahmliche.
11
DER MONAT MARTIUS NACH DEM RÖMISCHEN KALENDER IM JAHRE 37 VOR CHRISTI GEBURT
In Athen
Der Papyrus war gerollt, mit Kordel versehen und mit Wachs versiegelt worden. Es hatte achtundzwanzig Tage gedauert, bis er den Weg von Rom nach Athen zurückgelegt hatte. Antonius öffnete ihn und überflog den Text. Dann nahm er das Papier und schleuderte es Octavia in den Schoß. »Sieh dir das an -schon wieder bittet er mich um Hilfe.«
Octavia studierte die Zeilen mit Sorgfalt. Wie es schien, war Octavian glücklos, was seinen Krieg gegen Sextus betraf. In seinem Schreiben bat er den Freund und Triumvir um Hilfe und Nachschub an Schiffen.
»Ich bin ihm im letzten Jahr in Brindisi schon zu Hilfe geeilt«, fluchte Antonius. »Da hatte er es noch nicht einmal für nötig befunden, selbst in Erscheinung zu treten. Auf seinen Wunsch hin habe ich dort einen ganzen Sommer vertan. Was für ein Spielchen hat er sich nun wieder ausgedacht?«
Octavia reichte ihm den Brief zurück. »Du kannst das nicht ignorieren. Rom ist immer noch dein Land.«
»Wenn ich ihm helfe, geht abermals ein Sommer verloren, in dem ich mich auf den Kampf gegen Parthien vorbereiten sollte.«
»Mein Bruder wird dich nicht erneut verärgern wollen, seine Worte sind ernst gemeint. Du weißt, daß er als Stratege nichts taugt. Selbst wenn er hochmütig klingt, bedarf er deiner Hilfe.«
»Und warum sollte ich sie ihm gewähren?«
»Wäre dir Sextus Pompejus lieber als Herrscher von Rom?«
Antonius stieß einen Seufzer aus. »Nun gut. Dies eine Mal noch. Danach widme ich mich meinen eigenen Plänen.«
»Du darfst ihn nicht im Stich lassen.«
»Ich tue es für dich«, entgegnete er.
In gewisser Hinsicht stimmte das sogar. Ein Mann sollte seine Frau zufriedenstellen, jedenfalls im Rahmen des Möglichen. Abgesehen davon wußte Antonius aber auch, daß er Octavian nicht verärgern konnte, solange er eine Armee aus Italien brauchte. Er vermutete, daß der kleine Mistkerl das genau wußte.
Tarent in Italien
Es war ein früher Aprilmorgen. Die Sonne überzog die Berge der Basilicata mit einem rosigen Hauch, und die Menschen eilten zu den Fischmärkten. Eine riesige graue Welle schob sich den Felsen entgegen. Im Hafen lag ein Schiff neben dem anderen, ein unübersichtliches Mastenheer, das sich hob und senkte. Die Soldaten und Seeleute aus Antonius' Flotte drängten in die Stadt.
Weiter draußen im Meer stapfte Antonius an Deck seines Flaggschiffes auf und ab, eingehüllt in seinen roten Mantel, umgeben von den Offizieren seines Stabs, »Er taucht nicht auf«, brüllte er aufgebracht und wedelte Octavia mit dem Brief vor der Nase herum.
Götter, sie sieht blaß aus, ging es ihm plötzlich durch den Kopf. Das Kind hat ihren Bauch anschwellen lassen, und die Überfahrt hat sie noch elender gemacht. Seit Tagen hat sie keine Nahrung bei sich behalten. »Er braucht deine Hilfe«, beschwor sie ihn, »aber er hat seinen Stolz«, setzte sie leise hinzu.
»Und ich habe meinen, Octavia«, begehrte Antonius auf. Er hatte wertvolle Zeit vergeudet und war erneut auf Octavians Mißachtung gestoßen. Doch welchen Zweck hatte es, ihr zu grollen? Sie konnte nichts dafür.
Antonia hatte zu weinen begonnen. Antonius nahm das Kind hoch und warf es in die Luft, bis es wieder lachte.
»Ich werde ihm schreiben«, sagte Octavia. »Laß mich die Sache zwischen euch beiden regeln.«